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Warum wir in den Konflikten der Gegenwart nicht neutral sein können

Der Zustand des Bundesheeres erinnert uns an das Staatsprinzip Neutralität. In den jüngsten Debatten zeigt die Politik, dass sie dieses Wort kaum mehr versteht.

Viktor Hermann

Österreichs Neutralität hat den Status eines unumstößlichen Prinzips erlangt. Sie ist in der Verfassung verankert. Sie schwebt als staatsnotwendige Festlegung über aller Politik. Sie dient politischen Parteien ebenso wie einzelnen Politikern als Allzweckwaffe, mit der man jede politische Willensbildung beeinflussen kann - im eigenen Sinn selbstverständlich.

Dabei ist das Prinzip der Neutralität in die Gefahr geraten, zur heiligen Kuh zu werden, die in Wahrheit zu nicht mehr viel nutz ist, weil sie festgemauert in der politischen Landschaft steht, unverrückbar, ja sogar außerhalb jeglicher Debatte über ihren tieferen Sinn und ihre praktische Bedeutung für Österreich.

In jüngsten politischen Debatten über die Haltung Österreichs zu jenem Konflikt am Rande der Europäischen Union, der uns Sorgen macht, der uns unsere Verwundbarkeit (wegen des jämmerlichen Zustands unserer Landesverteidigung) vor Augen führt, tun sich manche Politiker als besondere Verfechter der Neutralität hervor. Sie sagen - und da sind Politiker der FPÖ besonders aktiv -, Österreich müsse sich im Konflikt zwischen der Ukraine und Russland auf einen Standpunkt der Neutralität zurückziehen. Deshalb dürfe man auch die Sanktionen der Europäischen Union gegen das Regime in Moskau nicht unterstützen; vielmehr müsse man strikt Äquidistanz halten zwischen Moskau und Kiew.

Diese Haltung ignoriert nicht nur die Fakten dieses Konflikts, sie zeigt auch, wie wenig diese Politiker über die Entstehung der österreichischen Neutralität wissen und wie sehr sie diese Neutralität auch missverstehen.

Die immerwährende Neutralität ist keine echt österreichische Erfindung, sie ist das Produkt jener Verhandlungen, die uns nach dem Zweiten Weltkrieg sehr früh ein erstaunliches Maß an Freiheit beschert haben. Die österreichische Neutralität passte ins sowjetische Konzept, einen Keil bündnisfreier Länder zwischen die beiden großen NATO-Partner Deutschland und Italien zu treiben. Dennoch hat Österreichs Politik und Staatsphilosophie niemals gleiche Distanz gehalten zum freien Westen einerseits und den totalitären Diktaturen östlich des Eisernen Vorhangs andererseits.

Deshalb stand ja auch Österreich im Kalten Krieg auf der richtigen Seite, deshalb musste Österreich nach dem Zerfall des Sowjetimperiums auch nicht umlernen wie Ostdeutschland, Tschechien, die Slowakei, Polen und all die anderen Länder Osteuropas.

Neutralität verstand und versteht sich vor allem als ein Konzept, keinem Militärbündnis beizutreten. Sie ist nicht identisch mit dem Verlust jeglichen politischen Gewissens. Sie bedeutet nicht, dass uns das Schicksal anderer gleichgültig sein kann. Neutralität ist nicht ein Konzept, sich aus allem herauszuhalten, sondern ein Bekenntnis zu ehrlicher Unabhängigkeit und zur Wahrung der eigenen Entscheidungsfähigkeit.

Die Ukraine will sich unter Krämpfen und mit großen Schwierigkeiten nach Westeuropa hin orientieren und dabei ihre Souveränität wahren, die sie erst nach dem Zusammenbruch der UdSSR errungen hat. Russlands Präsident Wladimir Putin kann es nicht ertragen, dass sein Reich nicht mehr Supermacht ist, sondern allenfalls eine regionale Großmacht. Er holte die Krim "heim ins große Reich" und befeuert den Konflikt in der Ostukraine.

Ein anderes Beispiel macht noch deutlicher, wie unsinnig die Theorie von der neutralen Äquidistanz zwischen Konfliktparteien ist. Im Dreiländereck Türkei-Syrien-Irak bedrängen sunnitische Terroristen die lokale Bevölkerung. Schiiten, Christen, Jesiden müssen um ihr Leben fürchten. Die Islamisten massakrieren jeden, der einer anderen Glaubensrichtung anhängt als sie selbst.

Zwischen solchen Konfliktparteien kann es keine Neutralität geben. Ein Politiker, der das aber fordert, hat weder die Neutralität verstanden noch ist ihm klar, dass Österreich Teil einer Wertegemeinschaft ist, der Menschenrechte wichtiger sind als gleiche Distanz zu diversen Streitparteien.