Harvey Weinstein (Filmproduzent), Dustin Hoffman (Schauspieler), Ben Affleck (Schauspieler), George Bush sen. (Ex-US-Präsident), Kevin Spacey (Schauspieler), Michael Fallon (Ex-Verteidigungsminister in Großbritannien) - die Liste ist endlos lang und sie wird sicher noch länger werden und sie wird nicht nur die Namen amerikanischer Politiker, Künstler und Bosse aufweisen. Der Skandal ist längst nach Europa herübergeschwappt. Sexuelle Gewalt gegen Frauen und Männer, so scheint es, gibt es überall und vor allem auch dort, wo man von gebildeten, feinsinnigen, klugen, künstlerischen Personen umgeben ist.
Männer, die ihre Machtposition ausnützen, um sich vor Frauen zu entblößen, sie zu begrapschen, zum Sex zu zwingen oder auch nur unerträglich sexistische Reden zu führen, machen sich schuldig. Sie sollten sich verantworten, vor Gericht und selbstverständlich auch vor der Gesellschaft, auf deren Verehrung oder Zustimmung sie angewiesen sind. All diese Künstler, Politiker und sonst wie durch ihre Funktionen und Ämter oder auch einfach nur durch Geld in machtvolle Positionen Gekommenen nutzen das Gefälle zwischen reichen, mächtigen, arrivierten Menschen und jungen, abhängigen, am Beginn einer Karriere stehenden Leuten im zwischenmenschlichen Umgang aus, um sich zu holen, was ihnen im Verkehr mit Gleichrangigen fehlt: das Gefühl, einen anderen gegen dessen Willen zu etwas zwingen zu können, was der nicht freiwillig hergibt.
Als Mann muss man auf diese Unholde stinksauer sein. Denn sie, die Idole und Vorbilder sind, werden durch die Enthüllung ihrer Übergriffe zu negativen Rollenmodellen. Wegen Weinstein und Co. stehen praktisch alle Männer in einem schlechten Licht. In weiten Teilen der Gesellschaft entsteht eine pauschale Einschätzung der Männer als potenzielle Sittenstrolche. Ganz nach dem Operettensong "Die Männer sind alle Verbrecher".
Die Enthüllungen über Weinstein haben eine wahre Lawine weiterer Enthüllungen ausgelöst. Und zugleich haben sie bei vielen anständigen Menschen mit Testosteron-Hintergrund (vulgo: Männern) einen Prozess der Selbsterforschung ausgelöst. Viele von ihnen mögen sich fragen, ob es womöglich auch in ihrer eigenen persönlichen Geschichte irgendeinen dunklen Punkt gibt. Hat man einmal im Verlauf eines netten Abends die nonverbalen Signale einer Gesprächspartnerin missverstanden und versucht, sie zu küssen - nur um recht ruppig abgelehnt zu werden? Wäre das dann schon ein Übergriff gewesen oder lediglich ein gescheiterter Versuch, einen Flirt auf eine neue Ebene zu heben? Und wo ist die Trennlinie zwischen dem einen und dem anderen, und ist diese Trennlinie immer erkennbar?
Hier beginnt in der derzeit recht aufgeheizten Atmosphäre der Debatten um sexuelle Gewalt und Übergriffe ein Element eine wichtige Rolle zu spielen, das unkontrollierbar und deshalb potenziell sehr gefährlich ist. Nehmen wir das Beispiel des britischen Verteidigungsministers Michael Fallon. Er hat offenbar einer Journalistin während eines offiziellen Essens ans Knie gefasst. Allein die Veröffentlichung dieses Vorwurfs hat gereicht, den Mann seinen Job zu kosten. Noch ehe tatsächlich irgendjemand recherchiert hätte, ob hinter diesem Vorwurf noch mehr steckt, ist Fallon zurückgetreten. Nun kann man mutmaßen, dass er sich die Schande ersparen wollte, dass noch andere, weit schlimmere Verstöße gegen den Anstand bekannt werden. Es könnte aber auch sein, dass Fallon den zu erwartenden Shitstorm in den sogenannten sozialen Medien vorhersah und sich diesem entziehen wollte.
Tatsache ist, dass es Fälle von Existenzvernichtung durch Bloßstellung im Internet gibt. Da werden Menschen medial öffentlich hingerichtet, noch ehe es ein ordentliches Gerichtsverfahren gegeben hätte. Da gilt nicht mehr der Grundsatz "unschuldig bis zum Beweis des Gegenteils", sondern es heißt, dass Beschuldigte von vornherein im Internet von einem Schwarm verurteilt werden. Und wenn dann nach einem langen Gerichtsverfahren der Beschuldigte freigesprochen wird, dann interessiert das niemanden mehr, weil dieser Mensch ohnehin schon seinen Job, seinen Ruf und vermutlich auch noch viel Geld verloren hat.
Sextäter müssen verfolgt und bestraft werden. Dafür gibt es Gesetze und eine juristische Vorgehensweise. Wenn aber der Schuldspruch auf Facebook, Twitter oder sonst wo im Netz schon ausreicht, um Existenzen zu ruinieren, dann haben wir Anlass zu großer Sorge.
Der Shitstorm darf nicht das Gericht ersetzen
Sextäter sind von der Justiz zu bestrafen, nicht von einem wild gewordenen Schwarm von Leuten, die sich in sozialen Netzwerken herumtreiben.

BILD: SN/APA/ROLAND SCHLAGER
Sexuelle Übergriffe sind ein Fall für die Gerichte.
