SN.AT / Kolumne / Zorn und Zweifel

Die Burka ist nicht der einzige Schleier, der gelüftet werden muss

Frauen dürfen sich laut Menschenrechtsgerichtshof in der Öffentlichkeit nicht vermummen. Die Anonymität von Onlinehetzern wird in Deutschland aber geschützt.

Viktor Hermann

Da sage noch einer, Europa sei auf dem besten Weg zu einer Einheitsgesellschaft. Viel gegensätzlicher als der Europäische Menschenrechtsgerichtshof und der deutsche Bundesgerichtshof kann man gar nicht urteilen, wenn es um Prinzipielles geht. Die beiden Fälle haben nur oberflächlich nichts miteinander zu tun. Beide befassen sich aber in sehr unterschiedlicher Weise damit, wie offen wir in unseren europäischen Gesellschaften miteinander umgehen.

In Frankreich geht es um die Frage, ob man es Frauen verbieten darf, in der Öffentlichkeit bis zur Unkenntlichkeit vermummt aufzutreten. Dort geht es um die Burka oder den Niqab, eine Vollverschleierung, die manche muslimische Frauen sich antun oder sich antun lassen müssen.

Das Menschenrechtsgericht befand nun, der Gesetzgeber in Frankreich habe mit dem Verbot der Vermummung die Bedingungen des gesellschaftlichen Miteinanders festgelegt und das sei ein legitimes Ziel. Es verstößt nicht gegen die Religionsfreiheit, wenn wir verlangen, dass wir unserem Gegenüber ins Gesicht schauen können, wenn wir erwarten, dass sich niemand hinter einem Schleier versteckt, mit welcher Begründung auch immer.

Der Umgang der Menschen miteinander ist in europäischen Gesellschaften grundsätzlich offen. Man hat keinen Grund, Versteck zu spielen, außer man hätte etwas zu verbergen oder gar finstere Absichten. Da geht es noch gar nicht darum, dass Frauen, die sich hinter einer Vollverschleierung verbergen müssen, sozusagen in der Öffentlichkeit als Nichtpersönlichkeiten erscheinen. Da geht es auch nicht um eine religiöse Vorschrift, die es ja nach Auskunft von Islam-Kennern im Koran gar nicht gibt. Es geht ausschließlich darum, wie man in Europa miteinander umgeht.

Freilich könnte man die ganze Affäre als Orchideenthema betrachten. Denn selbst in Frankreich ist die Zahl der vom Vermummungsverbot betroffenen Menschen sehr klein, so wie in allen anderen Ländern, die jetzt wieder das Vermummungsverbot diskutieren.

Nahezu zur selben Zeit entschied das deutsche Bundesverfassungsgericht, dass die Anonymität eines Menschen zu schützen sei, der einen anderen Menschen im Internet beschimpft und verbal attackiert. Nur wenn der so Beschimpfte und Attackierte die Gerichte bemüht und ein Strafverfahren anhängig ist, muss der Betreiber einer Onlineplattform die Nutzerdaten herausrücken.

Warum die Verfechter der Anonymität im Netz dieses Urteil als großen Sieg für die Meinungsfreiheit feiern, verschließt sich der Logik. Meinungsfreiheit bedeutet ja gerade, dass jeder seine persönlichen Ansichten haben und äußern darf, ohne dafür bestraft zu werden. Dazu braucht es keine Anonymität.

Menschen geraten immer wieder in Auseinandersetzungen miteinander, sie streiten und üben Kritik aneinander. Wer nur vermummt zum Streit antritt, lässt einen wichtigen Grundsatz menschlichen Zusammenlebens außer Acht. Waffengleichheit in einem Disput herrscht nur, wenn beide Seiten mit offenem Visier kämpfen. Sobald der eine offen und unter seinem echten Namen auftritt und der andere durch ein Pseudonym geschützt ist oder sich hinter einem gefälschten Namen versteckt, hört sich jede ehrliche Diskussion auf. Dann bleiben nur noch wüste Beschimpfungen und Untergriffe. Und die andere Form von Waffengleichheit, der Streit zwischen zwei Leuten, die beide anonym bleiben, führt sich selbst ad absurdum.

Wir wissen, wie sehr in Onlineforen die Sitten verrohen, dass dort zivilisierte Umgangsformen beinahe nicht mehr existieren, wir wissen, dass in manchen Bewertungsportalen mit der Anonymität Schindluder getrieben wird. Da täte es dringend not, wieder zur Offenheit zurückzukehren und das Versteckspiel zu beenden.

Das gilt für das Auftreten im täglichen Leben ohne Schleier und ohne verhüllende Masken. Das gilt aber auch für unser paralleles, "zweites Leben" im virtuellen Raum des Internets, das für viele mit dem Alltag unentwirrbar verknüpft ist.