Das Recht, durch Wahlen über die Obrigkeit zu entscheiden, haben unsere Vorfahren mit vielen Schmerzen und manchmal blutig erkämpfen müssen. Der Vertrag zwischen "denen da oben" und "uns da unten" beruht auf dem Prinzip, dass Regierende für eine gewisse Zeitspanne mit Macht ausgestattet werden, unter der Voraussetzung, dass sie diese Macht zum Nutzen aller einsetzen.
Dieses Prinzip setzt allerdings voraus, dass Herrschaft legitimiert wird durch möglichst große Beteiligung am Wahlvorgang. Wir sehen gerade in Ägypten, dass selbst in einer chaotischen politischen Lage sich ein Präsident nur dann als legitimiert betrachten darf, wenn sich an der Wahl wenigstens die Hälfte der dazu Berechtigten beteiligt. Selbst wenn es im Wahlgesetz kein Quorum gibt, das die Wahl legitimiert, gebietet es der politische Hausverstand, die Basis einer Wahlentscheidung möglichst breit zu gestalten.
Nun hat sich wieder einmal bei der EU-Wahl gezeigt, dass die Lust der Wähler nicht besonders groß ist, an einem Sonntag den Weg ins Wahllokal anzutreten und sich für eine der Parteien oder gar für einen bestimmten Kandidaten zu entscheiden. Als Begründung dafür führt der Demokrat von heute an, er habe von der Politik genug, es gebe keine Partei, die es wert sei, seine Stimme zu bekommen. Und außerdem sei das doch alles vergeblich, umsonst, sinnlos.
Wer genau hinschaut, wird aber ein ganz anderes Bild wahrnehmen. Es zeigt sich an einigen Einzelfällen, dass man durchaus durch Teilnahme an der politischen Willensbildung den Regierenden ganz schön Bescheid sagen kann. Man betrachte nur den Erfolg der linken Protestbewegung "Podemos" in Spanien. Da haben sich junge Leute zusammengetan und dem Establishment den Kampf angesagt. Und die etablierten Parteien sind gehörig geschockt.
Es müssen ja nicht immer populistische Bewegungen wie die UKIP in Großbritannien oder die Front National in Frankreich sein, die der Wähler benutzen kann, um einer alten, eingerosteten Politik einen Denkzettel zu verpassen. Es ist auch nicht die Wahlzelle der einzige Ort und der Wahlzettel nicht das einzige Mittel, um sich Gehör zu verschaffen.
In Ländern mit einem Wahlsystem, das die Parlamentarier zwingt, sich direkt an die Wähler zu wenden (anstatt anonym über Parteilisten), haben sich Bürger angewöhnt, ihren Abgeordneten auch einmal ein Feuer unter dem Hintern zu machen. Amerikanische und britische Wähler treten recht häufig in Kontakt zu "ihrem" Abgeordneten, teilen ihm oder ihr mit, was sie von dessen oder deren Stimmverhalten denken, und sie drohen mit Liebesentzug bei der nächsten Wahl. Wer hindert eigentlich österreichische Wählerinnen und Wähler daran, einmal einen Shitstorm über "ihre" Partei hereinbrechen zu lassen? Wer sagt, wir können nicht die Initiative ergreifen und unseren Politikern weit öfter die Meinung sagen als nur alle paar Jahre per Wahlzettel?
Demokratie, Wahlbeteiligung, Politikverdrossenheit - wann immer diese Themen in Diskussionen auftauchen, wird die Schweiz mit ihrer direkten Demokratie als Vorbild genannt. Doch niemanden scheint zu stören, dass in der Schweiz den Wahlen und Referenden zwischen sechzig und siebzig Prozent der Stimmberechtigten fernbleiben. Obwohl man dort doch so viel Wert auf den Volkeswillen legt, liegt einem großen Teil des Volkes nichts oder nur wenig an den Abstimmungen. Und doch sind in der Schweiz die Ergebnisse auch dieser mager besetzten Wahlen voll akzeptiert.
Wir dürfen uns zwar weiterhin von unseren Politikern wünschen, dass sie es endlich zu mehr Entscheidungsfreude bringen, dass sie Mut auch zu unpopulären Beschlüssen haben, wenn sie überzeugt von deren Notwendigkeit sind. Es wäre schön, wollten Politiker und politische Parteien wieder mehr Profil, mehr Ecken und Kanten zeigen, auf dass man sich als Wähler klarer für oder gegen jemanden entscheiden kann.
Wir Wähler müssen uns aber auch die Mühe machen, am politischen Prozess teilzunehmen, zur Wahl zu gehen, vielleicht auch einmal selbst Engagement zu zeigen. Denn wer beständig aus Desinteresse die Wahl verweigert und sich auf das Lamento beschränkt, man könne ja eh nichts ändern, der untergräbt das Fundament, auf dem unsere politische Ordnung steht. Und wir sollten nicht vergessen, dass diese Ordnung unter Schmerzen erkämpft worden ist.