Ein Raunen geht durch Europa. "Weg von den großen Einheiten", wispert es. "Small is beautiful", zischelt es. "Wozu brauchen wir Brüssel?", brummt es. "Wir wollen unabhängig sein", schmettert es aus manchen Ecken des Kontinents.
Das Pendel schwingt zurück, nachdem es seit den 60er-Jahren des vorigen Jahrhunderts die Internationalisierung weit vorangetrieben hat. Damals und in den folgenden Jahrzehnten ging die Jugend auf die Straße für Vietnam und Nicaragua, gegen die Diktaturen in Chile und Argentinien.
Die Jungen kämpften für die Verbrüderung mit den Verdammten dieser Erde, die etwas Älteren für die Einigung Europas als Bollwerk gegen jenen Nationalismus, der den Kontinent und die ganze Welt gleich zwei Mal an den Rand des Abgrunds geführt hatte.
Und das Projekt ist gelungen. Europa ist heute ein riesiger Marktplatz, dessen Mitspieler dieselben politischen Werte teilen, ähnliche Vorstellungen von Menschenrechten und persönlicher Freiheit haben. Freilich ging der Prozess, der diese Gemeinschaft gebildet hat, einerseits nicht weit genug, andererseits zu weit.
Zu weit, weil er eine Gemeinschaftswährung schuf, die Länder und Volkswirtschaften einschloss, die dafür nicht reif waren. Andererseits ging der Einigungsprozess nicht weit genug, weil niemand den Mut hatte, die Vereinigten Staaten von Europa wenigstens als klar definiertes Ziel zu nennen.
Wie alles, was auf halbem Weg stecken bleibt, muss dieses halb fertige Gebilde nun mit einer Form des Zerfalls kämpfen. Brüssel ist nicht zum Synonym von Einheit, Wohlstand und gemeinsamen Werten geworden, sondern zum Sinnbild unsinniger Bürokratie und Bevormundung.
Die alten Anhänger des Internationalismus erkennen nun mit verwirrtem Staunen, wie sehr das Pendel in die Gegenrichtung schwingt. Allenthalben entziehen Bürger der Europäischen Union das Vertrauen.
Die Schotten haben genug von den Engländern und wollen sich von ihnen trennen - wiewohl sie wissen müssten, dass sie bei dieser Trennung mehr verlieren als gewinnen können. Die Katalanen wollen - verständlich - das Madrider Joch abschütteln und damit die Ausbeutung und die kulturelle Bevormundung durch die Spanier.
Die Schweiz ist zwar Nutznießer aller EU-Freiheiten, will sich aber gegen den Zuzug von "fremden" Europäern abschotten und zugleich weiterhin Hafen und Umschlagplatz für die Geldströme derselben "Fremden" bleiben.
Die Wahl zum Europäischen Parlament Ende Mai wird voraussichtlich eine ganze Reihe von politischen Parteien nach oben schwemmen, die nationalistisch tönen und auf Brüssel einprügeln.
Ist das aber nun schon die Rückkehr nationalistischer Bestrebungen und Bewegungen in ganz Europa? Oder nutzen hier Populisten die Verunsicherung weiter Teile der Bevölkerung in einzelnen Staaten, um Macht zu erringen?
Es ist nicht von der Hand zu weisen: Der europäische Einigungsprozess hat so manchen überrollt. Zugleich sind alte Konflikte und Probleme nie bereinigt worden. Hätte Madrid nach dem Ende der faschistischen Diktatur den Katalanen tatsächliche kulturelle Autonomie gewährt, müsste es heute nicht die Abspaltung dieser hoch industrialisierten Region fürchten.
Andererseits hält sich seit Jahrzehnten hartnäckig die Legende, nur kleine politische Einheiten könnten die Bedürfnisse der Menschen ausreichend befriedigen. Jede Agglomeration von wirtschaftlicher und politischer Macht sei von Übel. Mit dem Schlachtruf "small is beautiful" kaschieren viele Menschen ihre Sehnsucht nach einer neuen Art von Biedermeier.
Dabei zeigt uns gerade die aktuelle Krise in der Ukraine, wie wenig differenziert dieses Pauschalurteil ist. Freilich will niemand von einem anonymen großen Bruder in der fernen Zentrale herumgeschubst werden. Doch sollte man nicht vergessen, dass kleine Einheiten immer in Gefahr sind, von großen, mächtigen Nachbarn drangsaliert zu werden.
Nicht umsonst haben sich die baltischen Staaten geradezu zu Musterknaben der europäischen Integration entwickelt. Sie wissen aus einer leidvollen Geschichte ganz genau, wie es ist, von einem großen Nachbarn beherrscht zu werden. Estland, Lettland und Litauen könnten allen Small-is-beautiful-Schwärmern eindringlich schildern, wie peinsam es ist, wenn man seine eigenen Entscheidungen erst einmal beim großen Nachbarn absegnen lassen muss.
Eine der zentralen Schwächen der Europäischen Union ist nicht so sehr ihre Größe, die Vielfalt der Kulturen und Sprachen, die Mentalitätsunterschiede. Europa ist nicht fähig, sein enormes Machtpotenzial tatsächlich zum Einsatz zu bringen, seine viel zitierte "Soft Power" verpufft allzu oft. Europa war auch bisher nicht fähig, eine gemeinsame europäische Identität zu schaffen. Und solange es diese europäische Identität nicht gibt, werden Populisten und Nationalisten immer wieder Erfolge bei Wahlen einfahren, regional und europaweit.