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Ehrlichkeit? - Pfeif' drauf

Aus der Affäre um die unflätige Sprache einer amerikanischen Diplomatin können alle Beteiligten viel lernen - die USA, Russland, Europa und die entsetzten Bürger.

Viktor Hermann

eruhigung tut not und ein gehöriges Maß an Zurückhaltung, auch wenn es zunächst reichlich schockierend wirkt, wie die amerikanische Diplomatin Victoria Nuland über die europäischen Bemühungen spricht, in der Ukraine zwischen den verschiedenen Lagern zu vermitteln. Die Dame hat etwas gesagt, was zwar im offiziellen Sprachgebrauch in den USA ungehörig ist, aber jeder im Mund führt. Das "F-Wort" mit den vier Buchstaben ist im angelsächsischen Raum ebenso tabuisiert wie es verbreitet ist. Kommt eine Zeitung in die Verlegenheit, Frau Nuland wörtlich zu zitieren, dann verhüllt sie die Ungehörigkeit verschämt mit ein paar Sternchen oder Pünktchen und schreibt "f..k". Und das, obwohl jeder Brite und jeder Amerikaner das Unwort ständig benutzt.

Es ist einer der grundlegenden Fehler von uns Europäern, dass wir dies immer auf die ursprüngliche Bedeutung des Wortes zurückführen. Gemeint ist keineswegs eine rüde Beschreibung der schönsten Sache der Welt, sondern eine Fülle von verschiedenen Schimpfwörtern. Der Unterschied: Im Englischen schimpft man mit sexuellen Begriffen, in vielen anderen Sprachen ist es eher fäkal.

Zu lernen ist aus der Affäre mehrerlei.

Erstens: Was die Europäer von den Amerikanern und ihrer Politik halten, das halten auch die Amerikaner von den Europäern und ihrer Politik. Man ist einander nicht grün. Das dürfte darauf zurückzuführen sein, dass - sehr pauschal gesprochen - Europäer und Amerikaner sehr unterschiedliche Konzepte davon haben, wie mit der Welt umzugehen ist.

Zweitens: Die Russen lauschen mindestens ebenso viel und ebenso hemmungslos wie die NSA. Sie nutzen das, was sie erlauscht haben, genauso ungeniert für ihre eigenen Zwecke. Und wenn sie damit Zwietracht zwischen den Machtzentren Europas und Amerikas säen können, dann ist ihnen das sehr recht.

Drittens: Die Scheinheiligkeit ist gleichmäßig über die ganze Welt verteilt. Wer immer sich erregt über die Untaten des anderen, möge doch bitte die Güte haben, einmal vor der eigenen Tür zu kehren. Das gilt für den Umgang miteinander genauso wie für das Erregungspotenzial, wenn es um Lauschaktionen geht. Wer von den europäischen Politikern noch nie das Wort "Sch. . ." im Zusammenhang mit der US-Politik gebraucht oder wenigstens gedacht hat, der möge getrost den ersten Stein werfen. Und wer die Enthüllungen von Edward Snowden über den Schnüffelwahn der NSA zum Anlass nimmt, tatsächlich empört zu sein, der denke einmal darüber nach, was europäische Polizeibehörden mit Lauschangriff, Rasterfahndung, Einschleusung von Trojanern in private PCs und Vorratsdatenspeicherung zur vorgeblichen Bekämpfung der organisierten Kriminalität alles vorhaben oder schon längst tun.

Die "zufällig" von einem russischen Politiker enthüllte Unvorsichtigkeit und Dummheit einer US-Diplomatin entlarvt erneut die Doppelbödigkeit, mit der in Europa Politiker sich selbst dort wichtig nehmen, wo es ihnen um die Sache gehen sollte. Wir erinnern uns: Als Edward Snowden enthüllte, dass die NSA Millionen Deutsche völlig illegal belauscht hat, regte sich bei deutschen Politikern kaum ein Finger. Man spielte die Sache herunter, weil man ja ganz genau wusste, wie sehr sich der Verfassungsschutz und der Bundesnachrichtendienst gewünscht hätten, sie könnten und dürften auch so viel lauschen. Ihren Gipfel erreichte die Erregung erst, als sich herausstellte, dass auch das Mobiltelefon der Bundeskanzlerin abgehört wurde, nicht nur die Telefone von 80 Millionen Deutschen.

Jetzt gibt es wieder dasselbe Theater. Der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder, zu Zeiten des Irakkriegs ein prononcierter Gegenspieler der US-Politik, einer, der mit dem lupenreinen Antidemokraten Wladimir Putin kuschelte, wurde auch abgehört. Große Aufregung. Ja, würde Herr Schröder nicht wissen wollen, was sein abtrünniger Verbündeter sagt und redet? Einer, der ganz offensichtlich seine demokratische Gesinnung für ein Beraterhonorar aus dem Umfeld Putins verhökert?

Keine Frage, Diplomaten sollten sich nie dabei erwischen lassen, dass sie sagen, was sie denken und wie sie es denken. Für sie gilt Höflichkeit, das freundliche Betrügen als Berufsvoraussetzung, auch wenn beide Seiten Bescheid wissen. Unflätige Bemerkungen kann sich die Berufsgruppe nicht leisten, noch viel weniger als Politiker. Es ist aber Aufgabe der Politiker, solche Kleinigkeiten nicht zum Skandal werden zu lassen.

Die aufgeregten Reaktionen in manchen Staatskanzleien legen allerdings bloß, dass es hier um tiefe Unterschiede im Verständnis von Politik geht. Der Umgangston der Amerikaner mag manchem Europäer ruppig und rüde erscheinen. Doch umgekehrt müssen wir uns die Frage stellen, ob nicht der europäische Umgang mit dem Russland des Autokraten Putin einer Form des Appeasements bedauerlich nahe kommt. Und wie falsch Unterwürfigkeit im Umgang mit solchen Leuten und solchen Regimen ist, müsste Europa aus leidvoller Erfahrung wissen.