Massenhafte Flucht vor Krieg und Armut, Mi gration in das wirtschaftlich reiche Europa, die Sorgen um die Folgen der Globalisierung, die Angst vor dem Verlust von über Generationen gewachsener Identität - dies sind Phänomene unserer Zeit, die als große Herausforderungen empfunden werden. Ihnen zu begegnen erfordert ein gehöriges Maß an Energie, Aufrichtigkeit und Realitätssinn.
Doch Politik und politisch bewegte Organisationen, Institutionen und Einzelpersonen ziehen es vor, diesen Herausforderungen vor allem mit einem moralischen Imperativ und mit Emotionalisierung zu begegnen. Anstatt sich zu fragen, wie man die derzeitigen Krisen praktisch bewältigen könne, indem man einen für alle Beteiligten gangbaren Weg sucht, schwingt man gern die moralische Keule.
Das ist durchaus verständlich und die moralische Keule funktioniert aus allen möglichen Richtungen.
Es ist gut begründbar, dass wir niemanden zurückweisen dürfen, der eine lange und gefahrvolle Reise unternommen hat, um Krieg, Elend und Armut zu entrinnen. Angesichts des Leides von Flüchtlingen, die sich durch Wüsten geschleppt haben, die Attacken von Räubern und die Ausbeutung durch Schlepper überstanden, den Gefahren des Mittelmeers entkommen sind, ist es geradezu Pflicht, unseren Reichtum zu teilen. Die Nächstenliebe als moralischer Standpunkt ohne Einschränkungen gebietet es einfach, zu helfen.
Wer dagegen argumentiert, wird schnell ins Eck der Unmenschlichkeit gestellt. Andererseits gibt es auch berechtigte Sorgen darüber, wie man das alles bewältigen soll und kann. Ängste um einen überwältigenden Einfluss fremder Kulturen und anderer Lebensweisen stellen sich gegen die Gebote der Nächstenliebe und werden ebenso mit einem moralischen Diktat untermauert. Der Staat, so heißt es, müsse seine Bürger schützen, die Gesellschaft vor allzu heftigen Umbrüchen bewahren.
Beide Seiten weigern sich, der anderen auch nur zuzuhören. Jeder fühlt sich auf einem hohen Ross der Moralität und hat deshalb das Gefühl, nur er habe recht, nur seine Seite sei die der Guten. Darüber vergisst man recht leicht, dass eine demokratische Gesellschaft von der Abwägung durchaus konträrer Interessen und Bedürfnisse lebt. Wer nur seinen eigenen Standpunkt als den einzig wahren, moralisch akzeptablen und richtigen wahrnimmt, begibt sich der Möglichkeit, im Disput mit der Gegenseite einen Mittelweg zu finden, der pragmatisch und auch realisierbar ist.
Wo diese Mentalität, sich mit seinen Emotionen in der absoluten Gewissheit einer scheinbaren moralischen Überlegenheit einzugraben, um sich greift, verlieren wir die Fähigkeit zur Diskussion. Dann verläuft die Ausein andersetzung unterschiedlicher Standpunkte so wie das Wochenende des G20-Treffens in Hamburg: Alle Beteiligten sind überzeugt, dass sie ihre Ansicht um jeden Preis durchsetzen müssen. Die Staats- und Regierungschefs halten ihren Gipfel ab, koste es, was es wolle. Die Globalisierungsgegner "wissen" ganz genau, dass alles, was "die da oben" tun, der Welt, dem Klima, den Armen großen Schaden zufügt. Deshalb verurteilt man auch solch einen Gipfel, ohne zu wissen, was er bringen könnte, und demonstriert in Massen Protest.
Auch die Vertreter des sogenannten Schwarzen Blocks glauben sich im moralischen Recht, einer verrotteten Gesellschaftsordnung möglichst alles vor die Füße zu werfen - auch wenn dabei so manche Sache zu Bruch geht und so mancher Polizist verletzt wird.
Und die Staatsgewalt will sich das Gewaltmonopol nicht streitig machen lassen und setzt mitten in einer Großstadt Tausende Polizisten ein, um "denen da unten" nicht nur die Leviten zu lesen.
Ob Migrationsdebatte oder Kampf um die Globalisierung, rundum herrscht moralische Überlegenheit, rundum leitet nicht Vernunft das Handeln der Menschen und Institutionen, sondern aufwallende Emotion. Damit werden die Betonung moralischer Ansprüche und das Beharren auf ihnen zur besserwisserischen Tyrannei eines moralischen Imperativs, der uns von der Lösung von echten und komplizierten Problemen weit weg führt.