Sie reiten wieder, die Propheten des Untergangs der westlichen Welt, die Künder vom Niedergang des Abendlandes. Die Spionageaffäre um die NSA wird zum moralischen Bankrott der USA hochstilisiert. Die mühsamen Prozesse innerhalb der Europäischen Union müssen als Beweis dafür herhalten, dass Europa weit hinter anderen Regionen der Welt hinterherhinkt. Die BRIC-Staaten (Brasilien, Russland, Indien und China), so heißt es, werden den "alten" Westen bald an Wirtschaftskraft überholen und sich an die Spitze der Welt setzen. Dann, so glaubt manches selbst ernannte Mitglied der westlichen Elite, wird der Niedergang Europas und Amerikas unaufhaltsam.
Als Beweis führen sie die Demografie an, die Wachstumsraten der Wirtschaft, die Zunahme an militärischer Macht in diesen Ländern und ihre wachsende Fähigkeit, die technologischen Lücken zur Ersten Welt zu schließen.
Ganz im Sinne dieser Einschätzung der Welt und der Verschiebung der Macht hat das Magazin "Forbes" jetzt festgestellt, der mächtigste Mann der Welt sei nicht mehr US-Präsident Barack Obama, sondern Russlands Herrscher Wladimir Putin, denn dieser habe seine Macht über Russland gefestigt.
Diese Einschätzung der Welt übersieht geflissentlich einige Fakten und ignoriert die Voraussetzungen, die es braucht, damit ein gesellschaftliches System in sich funktioniert und nach außen hin attraktiv genug ist, um als nachahmenswert zu gelten. Und was als Vorbild taugt, wird vermutlich eher als Partner betrachtet, von dem man profitieren kann.
Es waren nicht die ach so klugen Köpfe der europäischen Intelligenzia, die eine profunde Analyse des ökonomischen Aufsteigers Brasilien erstellt hätten, sondern dessen eigene Bürger. Die Brasilianer selbst haben ihrer Regierung gezeigt, was sie von Überbürokratisierung und Korruption halten. Demonstranten haben die Regierung gezwungen, Millioneneinnahmen aus dem Ölgeschäft in die Bildung und ins Gesundheitssystem zu lenken. Im Kern verlangen die Brasilianer von ihren Politikern nichts anderes als jene politischen Strukturen, die in Europa und Amerika den Grundstein für ein prosperierendes Gesellschaftssystem gelegt haben.
Die gelenkte Demokratie Russlands entwickelt sich zusehends zur Tyrannei einer dünnen Oberschicht und wird eines Tages abgleiten in die Herrschaft eines einzigen Mannes. Der "Erfolg" dieses Systems ist so groß, dass reiche Russen ihre Schäfchen lieber im Ausland ins Trockene bringen, als ihr Geld in der Heimat zu genießen. Wie sonst wäre es möglich, dass sich Russen in der Londoner City festsetzen und versuchen, mit fetten Spenden die Gunst westeuropäischer Staaten und deren Pässe zu erwerben.
Indien und China sollten im Zusammenhang mit Fortschritt und Macht sicher nicht im selben Atemzug genannt werden. In Indien wachsen und gedeihen die Wirtschaft und der Reichtum einiger, gleichzeitig ändert sich nicht viel am Millionenheer der Armen und Elenden. Die militärische Macht des Landes reicht gerade einmal, um ein prekäres Gleichgewicht mit dem Erbfeind Pakistan aufrechtzuerhalten - einem in sich zerrissenen Staat, dessen einzelne Landesteile nur durch die gemeinsame Religionszugehörigkeit zusammengehalten werden.
China schließlich, das uns die Pessimisten in Europa als die nächste Supermacht andienen wollen, benimmt sich zwar in seinem eigenen Hinterhof wie ein Rabauke, ist aber nach wie vor nicht in der Lage, Macht über große Distanzen zu projizieren. Das Land feiert wirtschaftliche Wachstumsraten jenseits von allem, was wir uns in Europa derzeit vorstellen können. Doch ruht ein erheblicher Teil dieses Erfolgs auf den Schultern von Hunderten Millionen rechtloser Wanderarbeiter und auf einem bürokratischen Zentralismus, der Freiheit zum Geldverdienen zwar gestattet, nicht aber die Freiheit, sich politisch zu organisieren. Und mit seiner wirtschaftlichen Expansion nach Afrika und Lateinamerika demonstriert China, dass es diese Länder eher als Kolonien betrachtet und nicht als Partner. In manchen Ländern hat der "hässliche Chinese" längst den "hässlichen Amerikaner" abgelöst.
Auch wenn die Demokratien Westeuropas und Nordamerikas in stürmischen Gewässern unterwegs sind - sie halten noch immer an jenen Prinzipien fest, die den Aufstieg dieser Gesellschaften in den vergangenen Jahrhunderten möglich gemacht haben:
Ein liberales Wirtschaftsmodell mit einem großen Maß an Rechtssicherheit.
Demokratische Verhältnisse, die den Bürgern Mitsprache im politischen Prozess garantieren und nicht ihre Zustimmung erzwingen.
Dazu eine echte Auswahl an politischen Parteien, nicht die Diktatur einer pseudoproletarischen Partei (China) oder einer auf nationalistischen Phrasen gegründeten Führerpartei (Russland).
Zumindest annähernde Gleichberechtigung der Geschlechter.
Gerade die jüngsten Krisen der Wirtschafts- und Finanzwelt demonstrieren, dass das westliche Gesellschaftsmodell in der Lage ist, derartige Rückschläge zu bewältigen. Es hat seine Strahlkraft nicht verloren.