Als der mächtige Ostblock zerbröselte, die Sowjetunion in sich zusammenfiel, die innerdeutsche Grenze aufhörte zu existieren und die Länder des früheren Ostblocks frei wurden, da sahen viele Menschen in Europa und den USA, im sogenannten Westen, eine wunderbare Zeit heraufdämmern: Man glaubte, ein Paradies werde sich auftun. Man war überzeugt, dass all das Geld, das bis dahin in aberwitzige Rüstungsprojekte gesteckt worden war, künftig für uns Bürger, für den Ausgleich sozialer Ungleichheit, für Kunst und Kultur, für schöne Dinge zur Verfügung stünde. Statt die Fähigkeiten der Wissenschafter und das Geld der Steuerzahler in die Entwicklung der Fähigkeit zur x-fachen Selbstzerstörung der Welt zu stecken, so dachten wir alle, könnten nun Forscher und Entwickler mit schier unbegrenzten Mitteln an der Verbesserung des Lebens für alle arbeiten.
Ein obergescheiter Politologe sprach gleich vom "Ende der Geschichte", weil ja mit dem Untergang des einen bösen Reichs der große Gegensatz der politischen Systeme aufgehört und folglich das Gute gesiegt habe. Nicht nur, dass der Wahn religiöser Fanatiker im Nahen Osten und in Zentralasien diese Annahme zur Illusion degradierte, nicht nur, dass das Wort vom "Ende der Geschichte" als dümmliches Gefasel und als Marketing-Gag eines Buchverlags entlarvt wurde - jetzt stellt sich heraus, dass selbst der alte, überwunden geglaubte Ost-West-Gegensatz nie wirklich verschwunden war.
Wir können nun Zeit und Energie damit verschwenden, die Schuld an dieser Entwicklung zu definieren und einen Schuldigen zu suchen. Das Problem mag zu einem Teil in westlicher Arroganz liegen oder in der seltsamen Vorstellung, dass alle sozialen und wirtschaftlichen Probleme im Umfeld der Europäischen Union am besten dadurch zu lösen seien, dass man viel Geld ausgibt und krisengeschüttelte Länder in die EU aufnimmt. Das Problem liegt mit Sicherheit auch daran, dass Russlands Führung nicht mit dem Machtverlust zurande kommt, mit dem Verlust an Einfluss auf und Kontrolle über die Nachbarstaaten.
Was seit dem Umsturz in Kiew vor rund einem Jahr geschehen ist, deutet darauf hin, dass Europa auf eine modifizierte Neuauflage des Kalten Kriegs mit Einsprengseln begrenzter militärischer Konflikte zusteuert. Dabei geht es weniger als beim alten Ost-West-Konflikt um Ideologie und Weltherrschaft als um regionalen Einfluss und wirtschaftliche Vorherrschaft. Das Verhalten der russischen Führung ist aggressiv und taktisch raffiniert. Wladimir Putin versucht, kleine Keile in die EU zu treiben, indem er Politiker in Griechenland und Ungarn hofiert, er setzt Westeuropa einem Wechselbad von Aggression und Dialogbereitschaft aus, mit dem die Europäer nur schwer umgehen können. Ihnen fehlt es derzeit noch an der einheitlichen Linie, einer konsistenten gemeinsamen Außenpolitik, die einer Großmacht vom Schlage Russlands begegnen könnte.
In den Siebziger- und Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts hat die NATO der expansiven sowjetischen Aufrüstung den Doppelbeschluss entgegengesetzt: Sie hat in der nuklearen Rüstung zum Ostblock aufgeschlossen (mit Raketen und Marschflugkörpern) und gleichzeitig Gespräche über die atomare Abrüstung angeboten - und schließlich auch erzwungen. Das hat auf ziemlich harte Weise den Frieden gesichert.
Möglicherweise wird sich heute Europa einer ähnlichen Strategie befleißigen müssen, auch wenn das zunächst teuer und unpopulär sein wird. Um einem militärisch erstarkten Russland und seinem Muskelspiel entgegenzutreten, wird Europa nicht viel anderes übrig bleiben, als selbst wieder mehr militärische Muskeln aufzubauen. Nur mit einer sichtbaren Bereitschaft, Europas Freiheit und Prosperität zu verteidigen, wird es gelingen, die Großmacht Russland von weiteren Abenteuern à la Krim oder Ostukraine abzuhalten. Nur aus einer Position der Stärke heraus wird Europa in der Lage sein, die russische Mischung aus Drohgebärden, asymmetrischer Kriegsführung und diplomatischen Tricks (Stichwort: Minsker Abkommen) zu stoppen.
Nur wenn der Westen zurückkehrt zu einer glaubwürdigen Abschreckungsstrategie, wird es unmöglich gemacht, dass Moskau das Modell Ostukraine auch in andere Regionen exportiert. Diese Abschreckung freilich wird früher oder später wieder mehr Geld kosten. Mit einem solchen Doppelbeschluss wäre die Friedensdividende nach dem Ende des Ost-West-Konflikts endgültig ins Reich der Fantasie entschwunden.