SN.AT / Kolumne / Zorn und Zweifel

Eine "neue" Europäische Union braucht Ideen, nicht billige Schlagwörter

Nach der Entscheidung der Briten, die EU zu verlassen, ist es hoch an der Zeit, dass Politiker sich Gedanken über die Zukunft machen, statt Phrasen zu dreschen.

Viktor Hermann

Der Schock nach dem britischen Referendum über den Brexit hielt lange genug an. Die Politikerklasse in London ist ordentlich durcheinandergewirbelt worden. Die Betreiber des Austritts haben sich hinreichend entlarvt (Nigel Farage hat praktisch über Nacht seinen Lebensinhalt verloren), wurden ins politische Nirwana geschickt (Michael Gove sitzt jetzt auf den Hinterbänken im Unterhaus) oder müssen das Chaos, das sie angerichtet haben, jetzt selbst ausbaden (Boris Johnsons Leben als Außenminister wird nicht gerade lustig sein).

Auf der anderen Seite des Zauns stehen all jene Europäer, die die Entscheidung des britischen Wahlvolkes nur mit Widerwillen akzeptieren, von "harten Bandagen" bei den Austrittsverhandlungen mit den Briten träumen und am liebsten mit dem Rohrstock über all jene herfallen möchten, die Brüssel eine Mitschuld an der Entscheidung der Briten zuweisen. Und dann gibt es noch jene, die sich in dumpfen Drohungen ergehen und das durchaus pfiffige Wort vom "Brexit" (für Britain's Exit) eins zu eins übertragen auf ihre Träume. Da ist dann vom "Öxit" die Rede, vom "Nexit", vom "Frexit" und was einem noch alles einfallen möchte zu Austrittsszenarien Österreichs, der Niederlande oder Frankreichs.

Bedrohlich wird das, wenn erfolgreiche Populisten wie Marine Le Pen oder Norbert Hofer, die sich anschicken, bei Wahlen höchsten Staatsfunktionen zumindest nahe zu kommen, von Referenden über einen Austritt Frankreichs oder Österreichs fantasieren. Populisten gehen immer nach demselben Schema vor: Sie stellen das Austrittsreferendum wie eine Rute ins Fenster, stets begleitet von dem Satz "Wenn sich die EU nicht ändert, dann . . . ". Das klingt in den Ohren so manchen Wählers wie das Drängen des Staatsmanns auf dringend nötige Reformen und ist somit recht anziehend.

Man darf dabei aber eines nicht vergessen: Keiner dieser Politiker hat je auch nur einen konkreten, vernünftigen und tatsächlich auch machbaren Vorschlag gemacht, wie die Europäische Union sich verändern solle. Sie spielen auf dem Klavier der Ängste, der Emotionen, der Sorgen und des Nationalgefühls. Sie tun so, als müsste man nur "die Ausländer" aus dem Land werfen und schon wäre alles bestens, gäbe es keine Arbeitslosigkeit mehr, keine Kriminalität und überhaupt brächen dann rein goldene Zeiten an.

Es wäre hoch an der Zeit, dass Politiker in den Mitgliedsstaaten der EU und jene in Brüssel, die Kommission und der Rat, das EU-Parlament ebenso wie die nationalen Parlamente endlich einmal ihre nicht unbeträchtliche politische Energie darauf richten, ein Bild der neuen EU zu entwerfen. Einer EU, die weder noch mehr Zentralismus in Brüssel konzentriert noch zurückfällt in schnöden Nationalismus. Einer EU, die sich auf jene Kernaufgaben konzentriert, die die größten derzeitigen Probleme lösen muss: Die Sicherung der Außengrenzen. Eine gemeinsame Außenpolitik mit einem damit verknüpften Sicherheitskonzept, das auf die Krisen und Konflikte der Zukunft vorbereitet ist. Und schließlich eine Wirtschaftspolitik, die sich nicht auf endlose Liberalisierung der Märkte allein beschränkt, sondern wieder jene sozialen Aspekte wirtschaftlichen Lebens berücksichtigt, die dafür sorgen, dass nicht nur ein paar Menschen von dem leben können, was sie im Arbeitsleben leisten, sondern möglichst alle.

Die Kritik an der Regulierungswut der Brüsseler Bürokratie ist berechtigt. Doch muss jeder einzelne Mitgliedsstaat darauf verzichten, von ebenjener Bürokratie die Durchsetzung seiner Sonderinteressen zu erwarten. Ein Rückfall in den unseligen und gefährlichen Nationalismus wird nur zu verhindern sein, wenn auch die Damen und Herren Strache, Wilders, Le Pen und andere aufhören so zu tun, als wäre die Nationalität eines Menschen wichtiger als sein Charakter. (Man schaue sich nur die diversen Fußballnationalmannschaften genauer an.)

Die Europäische Union muss sich nach dem Schock des Brexit-Referendums neu definieren, will sie nicht noch mehr Mitglieder verlieren oder gar in die Gefahr des Scheiterns geraten. Diese grundlegende Reform des gigantischen Friedensprojektes braucht gute Ideen, wo man bisher nur billige Schlagwörter und Phrasen gehört hat. Gute Ideen und Vorschläge von allen Seiten.