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Europas Naher Osten heißt Ukraine

Das Engagement der EU für die Opfer des Gaza-Konflikts zeigt die guten Absichten mancher Politiker. Der Plan, den Grenzübergang Rafah militärisch zu sichern, setzt am falschen Ort an.

Viktor Hermann


Die Welt brennt an allen möglichen Ecken und Enden. Eine ganze Weltordnung ist dabei, mit großem Krachen zusammenzubrechen. Unter ihren Trümmern liegen die Opfer fehlgeleiteter Politik, die Opfer nationalen Wahns und die Opfer religiösen Irrsinns.

In Vorderasien zerbröseln unter dem Ansturm islamistischer Horden jene Grenzen, die die europäischen Kolonialmächte vor einem Jahrhundert gezogen hatten, ohne dabei auf ethnische oder religiöse Bedingungen zu achten. In Europa regt sich rundum das Streben einzelner Regionen nach mehr Unabhängigkeit von Machtzentren. Der "klassische" Nahostkonflikt zwischen Israel und den Palästinensern hat gerade wieder eine besonders grausame Runde des Ringens durchgemacht.

Da schmerzt es ganz besonders, dass das vereinte Europa weiterhin in einem vielstimmigen Chor spricht, dem es an jeglicher Harmonie fehlt. Die EU tanzt wieder einmal auf zu vielen Hochzeiten gleichzeitig. Sie versucht, jeden Konflikt und jeden Unruheherd ein bisschen im Auge zu behalten - und tut deshalb überall etwas und kaum irgendwo wirklich das Notwendige.

Da der jüngste Krieg um Gaza ganz besonders im Zentrum des öffentlichen Interesses steht, findet es fast jeder europäische Politiker, der etwas auf sich hält, für notwendig, seinen Senf in Form von guten Ratschlägen, empörten Reaktionen und Absichtserklärungen abzuliefern. Das geht so weit, dass die Europäische Union nun anbietet, am Grenzübergang Rafah zwischen Gaza und Ägypten eine Kontrollkommission einzurichten. Sie soll - so wie zwischen 2005 und 2007 - verhindern, dass Waffen, Munition, Sprengstoff und Bargeld geschmuggelt werden.

Gegen diesen Plan spricht einiges. Eine EU-Kontrollkommission in Rafah dürfte vermutlich ebenso effizient den Schmuggel unterbinden wie deutsche Kriegsschiffe vor der libanesischen Küste den Nachschub für die Hisbollah stoppen - nämlich gar nicht. Europäische Kontrolleure müssten dort rasch zwischen die Fronten geraten. Israelis und Ägypter würden ihnen misstrauen, weil sie nicht glauben, dass die EU-Kontrollore hart und konsequent genug gegen Schmuggler vorgehen. Die Palästinenser würden die EU-Kontrollore austricksen - und wo ihnen das nicht gelingt, würden sie sie hassen und in so manche Falle locken. Zu gewinnen wäre dort nichts, nicht einmal die Befriedigung, einen Beitrag zum Frieden geleistet zu haben. Die EU würde stattdessen tief in einen Konflikt hineingezogen, den sie nicht kontrollieren kann.

Dabei hätte Europa doch seinen eigenen Nahen Osten, der uns noch viel näher liegt als Palästina und in dem ein Konflikt kocht, der noch viel Schaden anrichten kann. Der rasch eskalierende Konflikt um den Osten der Ukraine verdient das volle Engagement europäischer Außen- und Sicherheitspolitik.

Freilich leidet dieses Konzept an einem grundlegenden Mangel: An den Regierungschefs der Mitgliedsstaaten. So kräftig die EU wirtschaftlich dasteht, so jämmerlich präsentiert sie sich diplomatisch und machtpolitisch. Ganz abgesehen vom Mangel an militärischen Muskeln fehlt es der Europäischen Union auch an einem Konzept, mit dem sie ihre Soft Power wirksam einsetzen könnte. Gerade erst hat sie sich mit Müh und Not auf gemeinsame Maßnahmen gegen die aggressive Politik des Moskauer Tyrannen Putin geeinigt. Und kaum weht das erste Lüfterl Gegenwind in Form einer russischen Boykott-Liste, beginnt das große Jammern.

Das vereinte Europa schafft es nicht, mit einer Stimme zu sprechen, weil Partikularinteressen, nationale und persönliche Eitelkeiten und ökonomische Bedürfnisse eine gemeinsame Außenpolitik und Diplomatie bisher völlig verhinderten. Wenn europäische Politiker und Medien über die "Untätigkeit" und "Unfähigkeit" der Hohen Vertreterin für Außen- und Sicherheitspolitik meckern und lästern, dann fällt das auf sie selbst zurück. Denn sie selbst haben ja diese Position zu einem Sack ohne Inhalt gemacht.

Wollte das vereinte Europa tatsächlich mit Diplomatie Außenpolitik machen - und verbunden damit auch Friedenspolitik -, müsste sie es zunächst einmal endlich schaffen, ein in sich stimmiges Konzept einer Sicherheitspolitik zu entwerfen und umzusetzen. Sie müsste einen Außenminister oder eine Außenministerin installieren, der oder die tatsächlich für die ganze EU sprechen kann.

Und wenn das einmal gelungen ist, dann stünde es der Europäischen Union gut an, sich schwergewichtig mit dem größten Krisenherd in unmittelbarer Nähe zu befassen: mit der Ukraine und der wildgewordenen Politik eines russischen Präsidenten, der jeglichen diplomatischen Ton aus seinem Umgang mit der Welt gestrichen hat.

Das vereinte Europa hätte alle Hände voll zu tun, wollte es sich auf diese Prioritäten besinnen, statt weiterhin wie Schnittlauch auf möglichst vielen Suppen zu schwimmen.