Die westeuropäischen Gesellschaften stecken in einem Umbruch. Die Demokratie, die nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus sich im westlichen Teil des Kontinents festgesetzt hat, wuchs nach dem Aufbruch der Jugend in den späten 60er- und den frühen 70er-Jahren zur liberalen Demokratie heran. Der östliche Teil Europas musste noch lange darauf warten, bis die Entscheidung über Regierungen, über Politik und die Entwicklung der Gesellschaft endlich nicht mehr diktatorisch in Moskau gefällt wurde. Erst mit dem Fall der Mauer und des Eisernen Vorhangs durften Polen und Tschechen, Slowaken und Ungarn, Rumänen und Bulgaren sowie die Balten erfahren, was es heißt, wenn eine Regierung durch das Volk eingesetzt und wieder abgewählt wird, wenn Herrschaft dem Volk dient und nicht das Volk der Herrschaft.
Manche Demokratien in Europa sind schon recht alt - wenngleich nicht im Vergleich zu jener in den USA oder in Großbritannien -, andere noch sehr jung. Und doch registriert der besorgte Beobachter in vielen Mitgliedsländern eine beunruhigende Demokratiemüdigkeit. Einerseits dokumentiert sich der Unmut der Wählerschaft in sinkender Wahlbeteiligung. Es mag manchen altgedienten Politikern ein Trost sein, dass die knapp zehn Prozent der Stimmen für die "Alternative für Deutschland" bei der jüngsten Landtagswahl in Sachsen angesichts einer Wahlbeteiligung unter 50 Prozent ja nur fünf Prozent der Gesamtwählerschaft entsprechen.
Doch allein die Tatsache, dass nicht einmal die Hälfte der wahlberechtigten Sachsen sich der geringen Mühe unterzog, ins Wahllokal zu gehen, muss die Politik beunruhigen. Der Trend ist in weiten Teilen Europas derselbe: Wahlen locken kaum mehr jemanden hinter dem Ofen hervor. Zu viele Wähler haben den Eindruck, dass sich die politischen Eliten längst von der Bevölkerung abgekoppelt haben. Und tatsächlich: Wo ändert sich denn noch etwas durch eine Wahl? Allenfalls dort, wo ein Mehrheitswahlrecht die Chance auf echten Wechsel der Ideologie und damit der Politik ermöglicht. Wo immer Regierungen als Koalitionen gebildet werden, ziehen Interessenabwägung und Interessenausgleich ein. Und das wirkt auf viele Bürgerinnen und Bürger öd und langweilig.
Andererseits erleben wir mitten im vereinten Europa Politiker, die glauben, der Wahlsieg gebe ihnen ein Mandat, sich ihre Demokratie so zurechtzuschneidern, bis sie nur noch eine "Demokratie" ganz anderen Formats ist. So erklärte Ungarns Regierungschef Viktor Orbán kürzlich, er wolle keine liberale Demokratie, wie sie die anderen Europäer hätten, sondern ein nationales Staatswesen. Da Orbán nicht englisch in Brüssel sprach (dort gibt er sich streichelweich demokratisch), sondern ungarisch an einer Universität in Rumänien (da schlug er nationalistische und fremdenfeindliche, ja antidemokratische Töne an), blieb der Aufschrei aus Westeuropa aus.
Orbán stellte das System Putin in Russland, die Halbdemokratie Singapur und den zunehmend auf den Pascha Erdoğan zugeschnittenen Staat in der Türkei ausdrücklich als Vorbilder hin. Na, gute Nacht. Nach diesem Bekenntnis kann niemand in Europa mehr sagen, er hätte nicht gewusst, dass Orbán den ungarischen Staat zu einer autoritären Demokratur ummodeln will.
Rundum finden Politiker vom Kaliber Orbáns immer mehr Zuspruch. Nationalistisches Gewäsch kommt in einer Zeit der Unsicherheit, der ökonomischen Krisen, der Sorge um überbordende Migration immer besser bei den Menschen an. Der Erfolg von Marine Le Pen in Frankreich, der "wahren Finnen" in Finnland, Geert Wilders' in den Niederlanden oder der FPÖ bei uns hängt wesentlich mit einer Sehnsucht nach mehr "national" und weniger "international" zusammen.
Doch diese Medaille hat eine Rückseite. Was den Rechtspopulisten ganz besonders hilft, ist die Hilflosigkeit von Konservativen und Sozialdemokraten, von Bürgerlichen und Linken angesichts all dieser krisenhaften Entwicklungen. Sie haben keine Rezepte gegen die Verelendung der Zuwanderer und Asylbewerber, gegen den wirtschaftlichen Stillstand, die teilweise hohe Arbeitslosigkeit. Und wenn sie um die geeigneten Rezepte wissen, dann fehlt der Mut, sie einzusetzen, weil man nur ja keine potenzielle Wählergruppe verschrecken oder verärgern möchte.
Dabei schaufelt sich solche Politik selbst das Grab. Denn angesichts der Unfähigkeit von Regierungen klingen die schlichten Rezepte der Rechtspopulisten in den Ohren der Wählerschaft verlockend. Und dann wächst die Gefahr, dass Politiker die Demokratie missbrauchen, um sich ein passendes politisches System zusammenzubasteln, nach dem autoritären Vorbild Russlands, der Türkei und Singapurs.