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Wider die zwangsweise Verbrüderung im täglichen Leben

Die naturgegebene Distanz zwischen den Menschen ist in Gefahr, verloren zu gehen. Überall wird man "per Du" gequält.

Viktor Hermann

Der Umgang von Menschen miteinander spielt sich in konzentrischen Kreisen ab. Je näher uns ein Mensch steht, desto vertraulicher gehen wir mit ihm um. Je ferner wir uns unserem Gegenüber fühlen, desto vorsichtiger sprechen wir ihn an. Die Distanz zwischen uns und dem Fremden ist zunächst einmal groß - und so ist auch die Anrede bei der ersten Begegnung von Respekt und Höflichkeit geprägt. Man benutzt das Wort "Sie" und jede nur erdenkliche grammatikalische Höflichkeitsform. Ja selbst wer sonst im Dialekt unterwegs ist, befleißigt sich im Umgang mit einem Unbekannten einer Annäherung an das Hochdeutsche.

Je näher man den anderen dann kennenlernt, je mehr man miteinander arbeitet, desto lockerer wird der Umgangston, man kennt einander beim Namen. Und irgendwann unternimmt einer der Gesprächspartner den Vorstoß und schlägt vor, man könne doch "per Du" sein. Dies tut man nach reiflicher Überlegung, weil man entschieden hat, dass die Beziehung zu dieser Person es wert ist, in die nächste Stufe der Freundschaftlichkeit gehoben zu werden, aus der vielleicht irgendwann sogar echte Freundschaft werden könnte.

Und wie ist es in der heutigen Wirklichkeit? Schon beim Betreten eines x-beliebigen Geschäfts kann es einem passieren, dass irgendein jugendlicher Angestellter einem ein lockeres "Griaß di!", "Servas!" oder gleich "Was möchtest denn gern?" entgegenschleudert.

Was vermutlich als besonders freundliche Form der Verbrüderung gemeint ist, trifft den unvorbereiteten Menschen ziemlich hart. Man ist es gewohnt, sich anderen Leuten vorsichtig zu nähern und nicht gleich auf einen Bruderschaftskuss zuzusteuern. Man hätte gerne ein wenig Distanz gehalten, wenigstens vorläufig. Doch dazu hat man keine Chance.

Manche international tätigen Großkonzerne haben die unterschiedslose Duzerei zum Prinzip im Umgang mit der Kundschaft gemacht - weshalb sich viele dort auch kaum einmal blicken lassen. Und wenn, dann ist ihr Blick beim ersten "Du" so durchdringend, dass selbst der hartnäckigste Schwede kleinmütig zur zwischen Verkäufer und Kundschaft angebrachten Distanz zurückkehrt.

Man darf das nun nicht als Arroganz, Misanthropie oder Unfreundlichkeit missverstehen. Es geht allein darum, dass man gerne selbst die Entscheidung darüber treffen möchte, mit wem man in vertraulicherem Ton umgehen möchte und mit wem nicht. Oft hilft die durch das "Sie" errichtete sanfte Barriere auch dabei, einander einmal vorsichtig zu beschnuppern, ehe man sein Gegenüber in den nächsten inneren Kreis der Bekannten einbezieht.

Freundliche Beziehungen sind weitaus beständiger, wenn sie langsam wachsen können und nicht durch den Zwang zur spontanen Verbrüderung aller mit allen durch eine allgemeine Mode der Umgangsformen entstehen.