Es gibt Momente, in denen man glaubt, man sei im falschen Film. Das passiert, wenn die Wirklichkeit massiv von dem Bild abweicht, das man im Kopf hat. So mag es einem Kind ergehen, wenn es erstmals ganz sicher weiß, dass weder Osterhase noch Christkind irgendetwas mit den wichtigsten Festen im Jahreskreis zu tun haben oder die kleine Schwester tatsächlich nicht vom Storch gebracht wurde.
So erging es seinerzeit den Linken in Europa, als sie erkennen mussten, dass die Sowjetunion nicht das Paradies der Arbeiter war, sondern ein totalitärer Kerker und Kuba eine schlecht verwaltete Mangelwirtschaftszone, in der die Menschenrechte nichts galten. Diese Erkenntnisse sind schmerzhaft, aber sie gehören zum politischen Reifungsprozess eines Menschen. Irgendwann erkennt fast jeder die Tatsachen an.
Diesen Prozess haben freilich nicht alle durchgemacht auf ihrem Weg zum politischen Erwachsenenalter. Spürbar wird das gerade wieder am Beispiel Venezuela. Dort demonstriert Präsident Nicolás Maduro eindrucksvoll, wie man sein Mandat als gewählter Präsident in undemokratischer Weise auslegen kann. Das Land leidet unter Mangel an nahezu allem. Die Regierung stützt sich mehr auf die Knüppel der Polizei denn auf den Willen der Wählerschaft. Sie versucht, durch eine zwielichtig zustande gekommene Verfassungsversammlung und eine neue Verfassung die Opposition gänzlich auszuschalten. Und Europas Linke applaudiert heftig.
Linke Politiker vor allem in Deutschland und Großbritannien weigern sich standhaft, Maduros Unterdrückungsmethoden zu verurteilen. Genauso wie sie die Schuld an der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch Russland nicht bei Wladimir Putin suchen, sondern bei den USA und der NATO. Sie sehen auch in der anhaltenden vom Kreml befeuerten Krisensituation in der Ostukraine nicht das Werk des russischen Autokraten, sondern lediglich dessen Antwort auf eine mysteriöse Bedrohung aus dem Westen.
Nicht, dass die Konservativen vor derartigen Fehleinschätzungen gefeit wären. Sie unterstützen zwar (derzeit) keine Tyrannen, wollen sich aber von Parteifreunden mit Hang zur Autokratie nicht ganz distanzieren. Nur so ist erklärbar, dass für viele Konservative der Ungar Viktor Orbán und der Pole Jarosław Kaczyński trotz deren Versuchen, die Demokratie zu unterhöhlen, noch immer willkommene politische Partner sind.
Diese seltsame Verehrung für Undemokraten lässt sich nur dadurch erklären, dass halt den Linken jeder recht ist, der den europäischen Antiamerikanismus bedient (der Feind meines Feindes ist mein Freund), und die Konservativen jeden für einen honorigen Politiker halten, der kein Linker ist - auch wenn er demokratische Gepflogenheiten über Bord wirft.