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Multiple Sklerose: "Die Schübe im Griff behalten"

Früher wurden die Patientinnen nicht ernst genommen, heute handelt es sich um eine der bekanntesten neurologischen Erkrankungen: Was wir im Umgang mit MS gelernt haben.

Multiple Sklerose bedeutet „viele Narben“ und ist eine Autoimmunerkrankung, die sich gegen die Myelinscheiden der Nervenzellen richtet.
Multiple Sklerose bedeutet „viele Narben“ und ist eine Autoimmunerkrankung, die sich gegen die Myelinscheiden der Nervenzellen richtet.

Es beginnt mit einer vorübergehenden Sehstörung auf einem Auge. Plötzlich ist alles von einem grauen Schleier überzogen. Später kann die Multiple Sklerose zu immer schwerwiegenderen neurologischen Ausfällen führen. Doch es gibt immer bessere Therapien. Thomas Berger, Leiter der Universitätsklinik für Neurologie in Wien, erklärt, warum Betroffene der Erkrankung - in Österreich sind es immerhin etwa 0,15 Prozent der Bevölkerung - nicht verzweifeln müssen.

Wie kommt es überhaupt zur Entwicklung einer Multiplen Sklerose? Thomas Berger: Die Multiple Sklerose, kurz MS, ist eine Autoimmunerkrankung des zentralen Nervensystems, sprich von Gehirn und Rückenmark. Das eigene Immunsystem richtet sich plötzlich gegen das eigene Nervensystem, genauer gegen die Myelinscheiden, die als Schutzschicht um unsere Nerven herum fungieren. Wird die MS nicht behandelt, verursacht das Immunsystem Entzündungen an diesen Myelinschichten und damit Schäden. Das kann man sich vorstellen wie einen Kabelbrand, der entsteht, wenn die Isolationsschichten kaputt sind. Die Leitung der Nerven wird damit unterbrochen, es kommt zu Übertragungsverzögerungen zwischen den Nerven und die Betroffenen spüren neurologische Beschwerden. Im schlimmsten Fall werden die Nerven schließlich selbst geschädigt und es entstehen Narben. So kommt es auch zu dem Namen: Multiple Sklerose bedeutet "viele Narben". Die Funktion der Nerven ist erloschen und es ist ein permanenter Schaden entstanden, die Region kann nicht mehr arbeiten. Das kann die Sensibilität, das Gleichgewicht, die Motorik und viele weitere Funktionen betreffen. Die Probleme, die mit der MS einhergehen, treten immer wieder schubartig auf.

Was sind typische Symptome bei solchen Schüben? Ganz am Anfang kommt es zumeist zu Ausfällen beim Sehvermögen auf einem Auge. Betroffene berichten immer wieder, dass sie auf einmal alles durch einen grauen Schleier sehen. Dabei handelt es sich um eine Sehnerventzündung. Nicht selten tritt dieses Phänomen zusammen mit Gefühlsstörungen an verschiedenen Stellen des Körpers auf, die betroffenen Körperteile fühlen sich dann taub an. In weiterer Folge kommt es zu den geschilderten weiteren Ausfällen.

Verursachen diese Schübe auch Schmerzen? Die Schübe selbst nicht, die Ausfälle tun nicht weh. Es kommt jedoch im Zuge der Nervenstörungen beispielsweise zu Gangstörungen, die wiederum zu Fehlbelastungen der Wirbelsäule, der Hüften oder der Knie und damit zu Sekundärschmerzen führen können.

Welche Personengruppen sind besonders betroffen? Früher ist man davon ausgegangen, dass Frauen doppelt so häufig wie Männer betroffen sind. Mittlerweile weiß man, dass es sogar vier Mal mehr sind. Zudem steigt die Anzahl der Betroffenen - MS entwickelt sich, zusammen mit Migräne, zunehmend zu DER Frauenerkrankung in der Neurologie. Mehr als 14.000 Menschen in Österreich sind aktuell betroffen, davon sind vier Fünftel Frauen. Die Dunkelziffer ist vermutlich höher. Klassischerweise treten die ersten Symptome im Alter zwischen 20 und 30 Jahren auf, es kann jedoch auch früher oder später passieren. Diese jungen Frauen sind damals zum Arzt gegangen und man konnte sich zunächst nicht erklären, wie es zu den Ausfällen kommt, hat die Gefühlsstörungen abgetan und die Frauen als ein bisschen überspannt und hysterisch angesehen, das Ganze als psychosomatisch angesehen. Auch, weil man keine Behandlungsoptionen hatte. Erst in den 90er-Jahren hat man sich zunehmend einen Reim auf die Erkrankung machen und 1994 mit Subkutanspritzen eine erste Behandlungsmethode entwickeln können.

"In 30 Jahren Forschung hat sich viel getan."
Thomas Berger
Neurologe

Wie lässt es sich erklären, dass die Krankheit besonders im Alter von 20 bis 30 zum ersten Mal auftritt? Genau weiß man das nicht. In einer amerikanischen Studie vor drei Jahren hat sich jedoch zum wiederholten Mal ein Zusammenhang zwischen dem Epstein-Barr-Virus (EBV) und der Entwicklung von MS ergeben. Die Infektion mit diesem Virus ist auch bekannt als Pfeiffer'sches Drüsenfieber und führt bei einem sehr kleinen Anteil der Betroffenen anscheinend zur Entwicklung von MS. Typischerweise kommt es in der Pubertät oder im jungen Erwachsenenalter zum Ausbruch des Pfeiffer'schen Drüsenfiebers und in einem geringen Anteil der Fälle dann drei bis fünf Jahre danach zu den ersten Anzeichen der MS. Gemäß unseren Studien scheinen manche Menschen eine fehlerhafte immunologische Kontrolle der EBV-Infektion zu haben und daraus resultiert in weiterer Folge dann das Risiko für MS.

Welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es mittlerweile für MS-Betroffene? In rund 30 Jahren Forschung rund um die MS hat sich viel getan: Es gibt mehr als 20 zugelassene Therapieformen für die verschiedenen Verlaufsformen der MS. Nach wie vor gibt es die Subkutanspritzen, sie wurden jedoch in der Zwischenzeit von im Wirkmechanismus effektiveren Medikamenten abgelöst. Noch immer schwebt über Betroffenen das gefühlte Damoklesschwert, sie könnten durch ihre Erkrankung - so wie es früher oft der Fall war - im Rollstuhl landen. Doch das können wir mittlerweile in den allermeisten Fällen verhindern. Wir setzen direkt bei den Schüben an und versuchen diese binnen drei bis fünf Tagen durch Cortisoninfusionen in den Griff zu bekommen. Wenn Schübe und damit Entzündungsreaktionen aufgehalten werden, kommt es zu keinem Nervenschaden, keinen Narben und damit keinen dauerhaften Ausfällen. Die Krankheit wird damit nicht geheilt, aber so in Schach gehalten, dass die Betroffenen in den meisten Fällen ein normales Leben führen können - samt Berufs- und Familienleben.

Weitere Ziele der Forschung sind nun, bereits ge- oder zerstörte Bereiche im zentralen Nervensystem wieder regenerieren zu können, was beispielsweise auch bei dementiellen Erkrankungen vonnöten wäre. Hier steht uns noch viel Arbeit bevor.