Auf Gefühle spezialisiert hat sich Psychologin und Psychotherapeutin Helga Kernstock-Redl. Ein SN-Gespräch über den Umgang mit vermeintlicher und tatsächlicher Schuld.
Bei manchen Menschen könnte man den Eindruck haben, dass ihnen Schuldgefühle völlig fremd sind. Helga Kernstock-Redl: Grundsätzlich sind Schuldgefühle unangenehm. Wir versuchen sie daher zu vermeiden, vor allem dadurch, dass wir uns an das Regelwerk in unserer Gruppe halten. Ich gehe pünktlich zum vereinbarten Treffen, weil ich Schuldgefühle bekäme, wenn ich die anderen warten ließe.
Ein Mensch, der keine Regeln verinnerlicht hat, kann diese nicht verletzen und bekommt kein Schuldgefühl. Oder er hat ein so großzügiges Regelwerk, dass er sich leicht daran halten kann. Wenn die Regeln nur besagen, ich stehle nicht oder ich werfe keinen Zigarettenstummel auf die Straße und ich halte mich daran, dann habe ich keine Schuldgefühle. Ich bewege mich in dem Raum, der für mich ehrenwert ist.
Wann sind im Gegensatz dazu Schuldgefühle eindeutig zu viel? Schuldgefühle sind eindeutig zu viel, wenn sie meine Lebensqualität beeinträchtigen und mich ewig lang verfolgen, weil ich keine Wege finde, sie abzulegen. Perfektionismus kann ein Grund dafür sein, also ein Regelwerk, das ich von vornherein nicht erfüllen kann, weshalb ich mich ständig in der Schuld fühle. Von Natur aus ist es anders gedacht: Dass ich Gefühle loswerden kann und nicht ewig für alle Fehler schuld bin.
Warum sind Schuldgefühle in Ihrer Arbeit so bedeutsam geworden? Ich war zuletzt sieben Jahre auf einer Traumastation tätig. Da sind bei den Opfern von Katastrophen, die sich in Behandlung begeben, Schuldgefühle sehr dominant.
Nicht die Täter, sondern die Opfer von traumatisierenden Ereignissen werden von Schuldgefühlen geplagt? Schuldgefühle suggerieren uns: Du bist krank geworden, du bist geschlagen worden, du bist missbraucht worden, weil du etwas falsch gemacht hast. Du hast Schuld an dem, was dir zugestoßen ist. Schuldgefühle haben damit die Funktion, dass sie gleichzeitig auch eine Lösung suggerieren: Wenn du es richtig machst, passiert dir das künftig nicht mehr. Indem ich selbst Schuld übernehme, schaffe ich mir scheinbar die Möglichkeit, das Problem auch selbst - durch eine Veränderung meines eigenen Verhaltens - zu lösen.
Das heißt, das Opfer sucht den Ansatz zur Veränderung bei sich selbst, nicht beim Täter? Ein Mann ist in einer U-Bahn-Station aufs WC gegangen und wurde dort überfallen. In seinem Kopf ist die quälende Frage "Warum bin ich hingegangen?" viel größer geworden als die Schuld des Täters. Er hatte große Schuldgefühle, obwohl er nicht wissen konnte, was passieren würde. Wenn dieser Mann nun beschließt, er geht nie mehr auf eine öffentliche Toilette, dann redet er sich ein, dass ihm das nie mehr passieren könne. Das beruhigt. Doch natürlich können solche Katastrophen leider trotzdem vorkommen.
Das Gehirn macht aus Ereignissen, die unabhängig voneinander ablaufen, einen Kausalzusammenhang. Kinder sind besonders anfällig für solche Kausalketten. Weil ich gestern unsere Katze nicht gefüttert habe, ist sie heute gestorben. Weil ich schlimm war, bin ich krank geworden. So etwas denken Kinder sehr häufig. Das muss man ihnen richtiggehend ausreden.
Welche Wege gibt es aus der Sackgasse ewiger Schuldgefühle? Ein Weg ist, daraus zu lernen: Ja, ich habe diesen Fehler gemacht, aber ich werde das nicht wieder tun. Aus einem Fehler zu lernen ist auch unglaublich wichtig, was die Schuld früherer Generationen betrifft. Ich muss nicht mehr leiden, wenn mein Vater ein Verbrechen begangen hat, ist bin dafür nicht verantwortlich. Aber ich finde falsch, was er gemacht hat, und lerne daraus.
Verantwortung habe ich nur für das, was ich in meiner Hand habe. Ich bin seit einem Jahr auf der Onkologie therapeutisch tätig. Da fragen Krebspatienten häufig: Womit habe ich das verdient? Was habe ich falsch gemacht? Diese Frage kann sehr tief sitzen. Da hilft oft nur der Hinweis, dass leider auch kleine Kinder Krebs bekommen, die nachweislich nichts falsch gemacht haben.
Sind Vergebung und Versöhnung Wege aus dem Schuldgefühl? Es ist ein Weg, aber manchmal ist es besser, als Opfer zu lernen. Wenn Sie mir drei Mal auf den Fuß steigen, wäre ich dumm, Ihnen zu vergeben und Sie steigen mir das vierte Mal drauf. Vergeben und Vergessen ist nur ein guter Weg, wenn man sieht, der oder die Schuldige wird das nicht wieder tun.
Oft ist Vergebung für die Opfer trotzdem attraktiv, weil das keine Aktion von der oder dem Schuldigen verlangt. Angenommen, Sie schlagen mich, leisten aber keine Wiedergutmachung, dann wäre ich ewig in meinem Opfergefühl gefangen - es sei denn, ich verzichte auf Strafe oder Rache. Damit nehme ich die Sache selbst in die Hand und befreie mich aus der Opferrolle und damit aus der Abhängigkeit vom Täter.
Wie kann man mit einer schweren Schuld umgehen, die nicht wiedergutzumachen ist? Ein Autolenker fährt ein Kind tot. Bei Realschuld, die man tatsächlich nicht wiedergutmachen kann, hilft es oft, Strafe oder Buße zu ertragen. Schuldige sind oft ein Stück weit froh über eine Verurteilung, wenn es heißt, drei Jahre Gefängnis und dann bist du frei. Das Schuldgefühl will uns ja motivieren zum Wiedergutmachen oder es will zumindest eine "Gerechtigkeit im Leid" herstellen. Ich habe dir wehgetan, und jetzt leide ich dafür. Dann sind wir quitt und ich kann das ablegen.
Können Rituale dabei helfen? Es gibt symbolische Wege. Jemand macht eine anstrengende Pilgerfahrt, um eine solche Schuld und das damit verbundene Schuldgefühl abzutragen. Das hat einen Selbstbestrafungseffekt. Ich kenne auch Menschen, die Patenschaften für Kinder übernommen haben und ihre Schuld damit symbolisch abgetragen haben. Man kann auch um Verzeihung bitten, entweder bei einer oberen Instanz oder bei den betroffenen Eltern. Ein einfaches "Entschuldigung" hilft aber nicht, es muss deutlich werden, dass ich unter dieser meiner Schuld leide.
Manchmal hilft Trauer. Zu akzeptieren, dass dieses furchtbare Unglück passiert ist, setzt in Betroffenen oft einen Prozess in Gang. Weg von der Schuld und hin zur Trauer ist ein sehr konstruktiver Weg, damit zu leben. Die Trauer nimmt mit der Zeit ab und geht über in die erträglichere Wehmut. Das gelingt manchen Menschen auch nach schwersten Fehlern.
Helga Kernstock-Redl: "Schuldgefühle. Woher sie kommen, warum sie Ängste verursachen, wie sie unser Leben unterschwellig lenken und wie wir sie ablegen können", 264 S., TB 22 Euro, ePUB 9,99 Euro,