Die "Proud Boys" dürften die einzigen gewesen sein, die sich nach dem 90 Minuten langen Schlammfest als Gewinner fühlten. Mitglieder der gewaltbereiten Hassgruppe posteten auf "Telegram" ihre Genugtuung über die Weigerung des Präsidenten, sich von rechtsextremen Gruppen zu distanzieren. "Proud Boys, haltet Euch zurück, steht bereit", wiederholten Anhänger die Antwort Donald Trumps zu seinem Verhältnis zu der Organisation während der Debatte.
Es ist einer von vielen Tabu-Brüchen des Präsidenten in einer Debatte, die der Journalist Dan Balz mit seiner Erfahrung aus Jahrzehnten an Wahlkampfberichterstattung in der Washington Post als "schlimmste Präsidentschaftsdebatte seit Gedenken" bezeichnete. Das Online-Portal "Buzzfeed" sprach gar von einer "großen amerikanischen Shitshow".
Aus Sicht vieler Fernsehzuschauer geriet das einst als Höhepunkt des US-Wahlkampfs gefeierte Fernseh-Duell der Kandidaten zu einem deprimierenden Aufeinandertreffen dreier alter weißer Männer. Einen in den Umfragen hinten liegenden Amtsinhaber, der mit dem Plan nach Cleveland kam, seinen Herausforderer zu überrollen. Und mit dem Fox-Journalisten Chris Wallace als Moderator, der es nicht schaffte, den Bully aus dem Weißen Haus in seine Schranken zu weisen.
Wie wenig Trump und Biden einander schätzen, war von Anfang an zu spüren. Es gab kein Händeschütteln, keinen Small-Talk und nicht einmal ein gespieltes Lächeln. Die Kandidaten standen sich auf sicherem Abstand hinter ihren Rednerpulten gegenüber. Doch zwischen dem Präsidenten und ehemaligen Vizepräsidenten lagen mehr als die zwei Meter sozialer Abstand wegen COVID-19. Die Kandidaten trennten Welten.

Der Präsident redete viel, laut und über seinen Gegner hinweg. Das erwies sich in den ersten fünfzehn Minuten als effektiv, weil er Biden einfach nicht zu Wort kommen ließ. An einer Stelle sah sich Moderator Wallace genötigt, Partei zu ergreifen. Beide Seiten hätten vereinbart sich die ersten beiden Minuten bei jedem Thema ausreden zu lassen. "Warum halten Sie sich nicht daran", fragte Wallace.
Der ehemalige Vizepräsident Biden bemühte sich seinerseits darum, die Fassung zu wahren. Das gelang Biden weitgehend aber nicht immer. "Können Sie mal die Klappe halten", sagte er an einer Stelle entnervt über den wenig staatsmännischen Poltergeist rechts neben ihm. An anderer Stelle ließ sich Biden dazu hinreißen, den Präsidenten "einen Clown" zu nennen.

Die Chaos-Strategie Trumps verhinderte effektiv einen substanziellen Dialog der beiden Kontrahenten um das mächtigste Amt der Welt. Es gab während der 90 Minuten kaum inhaltliche Auseinandersetzungen, dafür umso mehr Beleidigungen. Allen voran vom Amtsinhaber, der seinen größten einzelnen Fehler mit einem persönlichen Angriff beging.
Biden erwähnte den Militärdienst seines an einem Gehirntumor verstorbenen Sohn Beau in Irak. Dieser sei, anders als Trump über Soldaten gesagt habe, "kein armer Schlucker oder Verlierer", sondern ein Held gewesen. Scheinheilig fragte der Präsident zurück: "Hunter"? Um dann einen Frontalangriff auf den jüngeren Sohn Bidens zu starten, der bei der ukrainischen Gasfirma Burisma einen gut bezahlten Job hatte.
"Alles Lügen", konterte der Vizepräsident, der seinen Sohn verteidigte und ihn dafür lobte, ein Suchtproblem in den Griff bekommen zu haben. Statt Anteilnahme zu zeigen, unterstrich Trump sein Image als gefühlskalter Narzisst.
Während Trumps Strategie darin bestand, Biden mundtot zu machen, versuchte der Demokrat den Präsidenten zu ignorieren und sich mit eindringlichen Appellen in die Kameras an die Wähler zu wenden.
Biden verglich die geringe Steuerlast Trumps von nur 750 US-Dollar an Einkommenssteuern in den Jahren 2016 und 2017 mit der von Lehrern und Krankenschwestern. Er sprach auch zu denen, die ihren Job verloren haben in einer Amtszeit, die mit weniger Arbeitsplätzen zu Ende geht, als sie begonnen hatte. Und er richtete sich an die Millionen Amerikaner, die fürchten, ihre Versicherung zu verlieren, weil Trump Obamacare unterminiert.
Das Land sei laut Biden "kranker, armer, mehr geteilt und gewalttätiger" geworden. Direkt an Trump gerichtet, fügte der Herausforderer hinzu: "Sie sind der schlimmste Präsident, den Amerika je hatte."
Analysten bezweifelten, dass es der in Umfragen abgehängte Trump in Cleveland schaffte, die Dynamik des Rennens zu verändern. Eine Blitzumfrage von CNN nach der Debatte bestätigte den Eindruck auf der Mattscheibe. 60 Prozent der Befragten erklärten, Biden habe die Debatte gewonnen, 28 Prozent Trump. CBS erklärte den Vizepräsidenten mit 48 zu 41 Prozent als Sieger. Doch einen richtigen Gewinner mag nach der chaotischen Debatte niemand küren.
Ob die beiden nächsten Fernseh-Duelle noch stattfinden, wird von Politikern und Meinungsführern hinterfragt. Die Sprecherin des Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, sagte, sie halte wenig davon, sich auf dieses Niveau zu begeben. Diese Ansicht teilt Frank Bruni in der New York Times. "Er sollte nicht mehr mit ihm debattieren", rät der Kolumnist, "Nicht nach der Horrorshow an diesem Dienstag: Eine Schande für das Format, eine Beleidigung des Landes und fast ohne jeden Punkt über 90 Minuten."
Team Biden sieht das anders und versprach, bei der Kandidat werde jede Gelegenheit nutzen, zu den Wählern zu sprechen. Selbst, auf die Gefahr hin, kaum zu Wort zu kommen.