Geht es um den Arbeitsalltag der Österreicherinnen und Österreicher, so zeichnet Arbeiterkammer-Präsidentin Renate Anderl ein düsteres Bild. "Frauen schildern uns, dass ihr Arbeitstag psychisch so anstrengend ist, dass sie am Abend kaputt sind und ins Bett fallen. Am Samstag müssen sie einkaufen und am Sonntag putzen, weil unter der Woche keine Zeit dafür bleibt." Der Druck im Job steige - quer durch alle Branchen. Es sei höchst an der Zeit, über eine Arbeitszeitverkürzung zu reden, fordert Anderl. Die letzte Arbeitszeitverkürzung habe es in den 70er-Jahren gegeben, damals von 45 auf 40 Stunden pro Woche. Digitalisierung und Automatisierung aber hätten die Produktivität pro Arbeitsstunde seit den 1970er-Jahren verdoppelt.
Arbeitszeit: Wie viele Stunden sind genug?
30 Wochenstunden bei vollem Lohnausgleich: Das will die Arbeiterkammer. Was wären die Folgen?

59 Prozent würden die gewonnene Zeit für sich nutzen
"Eine gesunde Arbeitszeit würde bei 30 bis 35 Stunden pro Woche liegen", betont Anderl, die AK will eine stufenweise Verkürzung bei vollem Lohnausgleich. Machbar sei das, weil die Produktivität durch höhere Motivation steige, die Krankenstände und die Fehlerquote sinken würden und mehr Frauen für Vollzeitarbeit gewonnen werden könnten. Eine Onlinebefragung unter Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern gebe der AK recht. Acht von zehn Befragten wollen demnach weniger arbeiten. Die gewonnene Zeit wollen 59 Prozent für sich nutzen, 58 Prozent für die Familie und 44 Prozent für Hobbys.
Vier-Tage-Woche, 30-Stunden-Woche und eine sechste Urlaubswoche, das würden auch immer mehr Betriebe umsetzen, sagt Anderl. "Und die haben keine Probleme, Mitarbeiter zu finden."
Genauso produktiv bei weniger Stunden?
Eine Kernfrage lautet: Kann die Produktivität in der verkürzten Arbeit derart gesteigert werden, dass unter dem Strich das Gleiche herauskommt? Für Monika Köppl-Turyna, Direktorin des Wirtschaftsforschungsinstituts Eco Austria, ist das undenkbar. Bei einer Arbeitszeitverkürzung auf 30 Wochenstunden würde der Stundenlohn um ein Drittel steigen. Folglich müsste die Produktivität in der verkürzten Arbeitszeit ebenfalls um 33 Prozent steigen. Tatsächlich betrug der höchste jährliche Produktivitätszuwachs seit der Jahrtausendwende 2,7 Prozent - das war 2006. "Das wäre immer noch um das Zwölffache zu wenig", sagt Köppl-Turyna. Nicht einmal, wenn man die Produktivitätszuwächse der vergangenen 22 Jahre summiert, kommt man auf die 33 Prozent - es sind tatsächlich nur 27 Prozent. Die Ökonomin räumt ein, dass es in einzelnen Sparten - etwa Bürojobs, IT oder digitalen Dienstleistungen - funktionieren könnte, die Produktivität trotz geringerer Arbeitszeit zu halten. Bei klassischen Dienstleistungen oder Fließbandproduktion aber "geht das nicht". Ihre Berechnungen kommen so zu einem klaren Schluss: Eine derartige Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich würde die Wirtschaftsleistung Österreichs zwischen vier und acht Prozent senken - sie würde das Land also ärmer machen.
Kritik kommt von Industrie und Tourismus
"Bei jedem Schulaufsatz würde man sagen: Themenverfehlung, nicht genügend, bitte setzen", sagt Stefan Pierer, KTM-Chef und Präsident der oberösterreichischen Industriellenvereinigung, zur Forderung der Arbeiterkammer. "Wir fahren mit Vollgas gegen die Wand, überall fehlen Arbeitskräfte und die demografische Keule schlägt mit voller Wucht zu, weil die Babyboomer in Pension gehen. Aber statt zu überlegen, wie wir Leute motivieren, länger oder mehr zu arbeiten, sollen wir die Arbeitszeit verkürzen?" Bessere Kinderbetreuung, mehr Anreiz, von Teilzeit auf Vollzeit zu wechseln, und mehr Anreiz, auch in der Pension zu arbeiten, heißt für die IV die Antwort. Und die IV Oberösterreich kommt bei einer Befragung von Arbeitnehmern wenig erstaunlich auf komplett andere Ergebnisse. 42 Prozent erklärten, schon persönlich vom Arbeitskräftemangel betroffen gewesen zu sein, ob bei Ärzten, in Pflegeheimen, in Geschäften oder in der Gastronomie. "Für uns als Industrie ist das Thema ja noch am wenigsten brisant, weil wir am besten zahlen, aber fragen Sie im Pflege- oder Tourismusbereich, wo sie dann Leute finden sollen", sagt Pierer. Und gleiche Arbeit in kürzerer Zeit, weil die Produktivität steige, hält er für Fantasie. "Das wäre die totale Ausbeutung der Mitarbeiter, wenn sie noch mehr in der gleichen Zeit arbeiten müssten."
Wenig freundlich fällt die Beurteilung auch im Tourismus aus. "Was die Herrschaften nicht bedenken, ist, dass die Leute, wenn sie mehr Freizeit haben, diese auch nutzen wollen, mit Essengehen oder Skifahren", sagt Mario Siedler, Tourismuschef in Obertauern. "Dann wird niemand da sein, um sie im Wirtshaus zu bedienen oder am Lift zu stehen." Kürzere Arbeitszeit sei für manche Gasthäuser möglich, die Schließtage erhöhen. "In der Ferienhotellerie geht es nicht, dem Gast zwei Tage in der Woche kein Essen zu servieren oder die Skihütte zu schließen."
Hanno Lorenz, Ökonom der Agenda Austria, setzt auch deshalb auf Freiwilligkeit. Mitarbeiter und Betriebe könnten dort, wo es möglich sei, kürzere Arbeitszeiten vereinbaren. Dies generell zu verordnen sei aber "höchst problematisch". Wer die Produktivität nicht entsprechend steigern könne, müsste die Produktion drosseln oder wegen der höheren Kosten die Preise erhöhen - was wieder die Inflation befeuern würde.