Geht man von der stark befahrenen Favoritenstraße durch das Tor des Wiener Theresianums, betritt man eine andere Welt: ein fünf Hektar großes Areal mit historischem Baumbestand, riesigen Sportanlagen, einem Hallenbad, einer Mensa, die in den einstigen kaiserlichen Stallungen untergebracht ist. Jeder Winkel atmet Geschichte: Maria Theresia hat die Eliteschule 1746 im Sommerpalais der Habsburger gegründet, um adelige Knaben zu treuen Dienern des Vielvölkerstaats ausbilden zu lassen.
Heute ist das Theresianum eine moderne Privatschule mit Öffentlichkeitsrecht - und nach wie vor der Inbegriff einer Eliteschule, die für 800 Euro Schulgeld pro Monat viel zu bieten hat: Die Wände in den weitläufigen Gängen sind gespickt mit Bildern von sportlichen Wettbewerben, Sprach- und Kulturreisen, internationalen Veranstaltungen und erfolgreichen Absolventen. Dass Leistungsbereitschaft großgeschrieben wird, steht schon im Leitbild. "Schule soll aufs Leben vorbereiten und dazu zählt eben auch, Leistung zu erbringen", sagt Schuldirektor Andreas Schatzl. "Leistung", fügt er hinzu, "ist bei uns nichts Unanständiges, sondern etwas, auf das man stolz sein kann." Auch Disziplin und Respekt sind keine Fremdworte: Im Grunde gehe es darum, dass Schülerinnen und Schüler "dann auch wirklich bereit sind, im Leben Verantwortung in der Gesellschaft zu übernehmen". Mit allem Drum und Dran, gutes Benehmen inklusive. Die Nachfrage ist groß: Pro Jahr werden am Theresianum doppelt so viele Kinder angemeldet, wie es Plätze gibt.
Leistung wird also großgeschrieben in der Wiener Eliteschule. Und in der Politik?
Da ist die Sache nicht so klar. Tatsache ist, dass die Schule seit jeher Gegenstand von ideologischen Grabenkämpfen war - und weiterhin ein Experimentierfeld für immer neue Reformen ist, wobei es dabei oft um die Frage Leistungsdifferenzierung und Leistungsbeurteilung geht.
So wurden an den Gymnasien zu Beginn der 1970er-Jahre die damals üblichen Aufnahmeprüfungen abgeschafft. Heute ist der Andrang an die AHS so groß, dass es de facto längst wieder eine Selektion gibt - und wegen des Andrangs an die AHS wohl auch geben muss: in Form von Aufnahmegesprächen mit den Direktoren, Fragebögen und Quasi-Eignungstests. In den Hauptschulen erfolgte in den 1980er-Jahren zunächst die Umstellung von zwei Klassenzügen auf Leistungsgruppen in den Hauptfächern innerhalb der Klassen. 2012 wurde dann die ursprünglich als "Gesamtschule" geplante Neue Mittelschule (NMS) zur Regelschule - mit zwei Pädagogen in den Hauptfächern, die die nötige Differenzierung gewährleisten sollten. Mittlerweile wurde aus der NMS die Mittelschule und seit dem Schuljahr 2020/21 gibt es dort eine neue Form der Leistungsbeurteilung in Deutsch, Mathematik und Lebende Fremdsprache, wo zwischen den Leistungsniveaus "Standard" und "Standard AHS" unterschieden wird.
Experimentiert wurde und wird auch an den Volksschulen, wo etwa nach Alternativen zu den Ziffernnoten gesucht wurde - Stichwort Pensenbuch. Ab 2016/17 durften Volksschulen für kurze Zeit tatsächlich in den ersten drei Klassen eine alternative Beurteilung anstelle von Ziffernnoten vornehmen. Die schwarz-blaue Regierung unter Sebastian Kurz hat das abgestellt - und Ziffernnoten ab dem Jahreszeugnis der zweiten Klasse wieder verpflichtend gemacht.
Es ist also ein ewiges Herumdoktern. Begleitet wurden und werden Reformen stets von hitzigen Debatten: Wie kann man Talente am besten fördern und zugleich die Schwächeren mitnehmen? Braucht man wirklich Schulnoten und Matura? Wie viel Leistung ist zumutbar?
Als Gerhard Riegler 1967 an das soeben eröffnete Sigmund-Freud-Gymnasium im zweiten Wiener Gemeindebezirk kam, musste er noch eine Aufnahmeprüfung machen. Wenige Jahre später wurde er selbst dort Lehrer - für über 30 Jahre -, bevor er Bundesvorsitzender der AHS-Lehrer-Personalvertretung wurde. Eine Aufnahmeprüfung der Art wie zu seiner Zeit als Schüler wünsche er sich nicht zurück, sagt Riegler heute. Dennoch bräuchten die Gymnasien ein Werkzeug, um unter den vielen Bewerbern und Bewerberinnen auswählen zu können - vor allem deshalb, weil in den Volksschulen die Einser auf Druck der Eltern oft hergeschenkt würden und die Volksschulzeugnisse nicht aussagekräftig seien. Wenn sich daran nichts ändere, wäre es besser, auf die Ergebnisse standardisierter Tests in den Volksschulen zurückzugreifen. "Ich würde eine punktuelle Aufnahmeprüfung an den AHS für gescheit halten, als Teil eines Aufnahmeverfahrens. Das gleiche Gewicht sollten die Leistungen aus der Volksschule haben." Eine Differenzierung innerhalb des Schulwesens sei jedenfalls wichtig, "weil man sonst die Leistungsstärkeren entweder unterfordert oder Leistungsschwächere überfordert". Außerdem sei es eine erwiesene Tatsache, dass ein leistungsorientiertes Schulwesen gerade Kindern aus sozial schwachen Familien entgegenkomme. "Je stärker es auf Leistung ankommt, desto weniger spielt der sozioökonomische Hintergrund eine Rolle."
In dasselbe Horn stößt Gunter Bittner. Der ehemalige Salzburger AHS-Direktor und Ex-Landesschulinspektor ist Vorsitzender der "Bildungsplattform Leistung & Vielfalt", die sich für ein differenziertes Bildungssystem starkmacht. "Wir brauchen Leistung für den Wohlstand, den wir haben, und für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, damit das Miteinander funktioniert", sagt Bittner. Er habe oft bei Maturanten und Maturantinnen die Momente der Euphorie nach bestandener Reifeprüfung miterlebt: "Sie hüpfen, tanzen, freuen sich: ,Jetzt hab ich's geschafft!'" Und auch Kinder im Volksschulalter wollten Rückmeldungen haben, zeigt sich Bittner überzeugt: "Und zwar eine Rückmeldung in Ziffernnoten und nicht eine verbale Ausführung, die in kürzester Zeit in Floskeln endet. Die Schüler wollen ein Ranking haben wie im Sport: Wer ist Erster, Zweiter, Dritter - und wo stehe ich?"
Dennoch ist der Leistungsbegriff nicht ausschließlich positiv besetzt. Wer sehr viel leistet, ist oft nicht der Beliebteste, sei es in der Schule, sei es im Berufsleben. Davon zeugt schon die Tatsache, dass es für den scheinbar Zu-viel-Leistenden einen eigenen Terminus gibt: Streber. "Dass leistungsbereite Kinder und Jugendliche als Streber gelten, dass also Leistung nicht als Ansporn gilt, sondern negativ behaftet ist, das ist absurd", sagt der Philosoph Konrad Paul Liessmann. In diesem Punkt müsste Österreich wohl auch an seiner Mentalität arbeiten. Denn wenn man Leistung nicht anerkenne, dürfe man sich nicht wundern, "wenn sie nicht als Tugend gilt". Wobei es nie um Leistung der Leistung willen gehe: "Der Maßstab muss immer der Inhalt sein."
Besuch in der Waldorfschule in Salzburg. Alternativschulen wie diese haben mitunter den Ruf, dass hier alles vergleichsweise leger und locker ablaufe. Doch Biologielehrerin Edda Zidar räumt gleich am Beginn des Gesprächs mit einem Vorurteil auf: "Wir sind sicher nicht laissez faire." Es gebe an der Schule nur einen anderen Zugang zur Bildung. "Bei uns gibt es den Druck des Durchfallens nicht." Der Stoff der einzelnen Fächer wird hier geblockt in "Epochen" vermittelt. Wer die Prüfung in einer "Epoche", beispielsweise Geschichte oder Deutsch, nicht ad hoc schafft, steigt trotzdem auf und kann die Prüfung später nachholen. Das Schulzeugnis ist ein "Wortzeugnis" und umfasst schon einmal neun Seiten, auf denen die Lehrer der jeweiligen Fächer ihre verbalen Beurteilungen abgeben. Und nach den vier Jahren Oberstufe geht es auch nicht gleich zur Matura, sondern ein Jahr lang an die Abendschule, wo die Schülerinnen und Schüler auf die Reifeprüfung vorbereitet werden. "Leistung wird bei uns großgeschrieben - es wird nur anders gehandhabt", sagt Leander Rosenkranz, der soeben die Matura absolviert hat. "Man hat nicht diesen unglaublichen Leistungsdruck. Trotzdem kann jeder aus sich herausholen, was in ihm steckt." Und Schulkollegin Nina Hinz betont, die Ausbildung werde in der Waldorfschule eben nicht auf Abschlüsse reduziert. Es gehe vielmehr darum, die Bildung, das Wissen fürs Leben mitzunehmen, ohne sich nur auf Prüfungen zu konzentrieren.
Von der Waldorfpädagogik, die den Fokus auf die Entfaltung der Persönlichkeit und die "Entwicklungsbedürfnisse" der Kinder legt, zurück zum Theresianum, wo sich Direktor Schatzl unter anderem dafür ausspricht, dass man in den Zeugnissen auch die Fehlzeiten wieder anführt, wie das in vielen Ländern üblich sei. "Das wäre ein Signal, das Konsequenzen hätte", ist er überzeugt. Seine Schule sorgte übrigens im Vorjahr im Feuilleton für große Schlagzeilen. Der Schriftsteller Tonio Schachinger hat in seinem Bestseller "Echtzeitalter" seine eigene Schulzeit am Theresianum verarbeitet. In dem Buch kommt auch ein despotischer Lehrer vor. "Was Schachinger da beschreibt, ist längst vorbei", sagt Schatzl. Aber, fügt er mit leichter Ironie hinzu, auch da zeige sich: "In anderen Schulen stehen solche Dinge in der Maturazeitung. Bei uns schreibt man ein Buch darüber, das dann den Deutschen Buchpreis bekommt."
