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Uraufführung von "Everywoman": Jedefrau muss nicht einsam sterben

Empathie statt rauschender Party: Mit "Everywoman" schuf Milo Rau einen "Jedermann", den die Salzburger Festspiele in diesem Sommer brauchen.

Ursina Lardi und Helga Bedau in „Everywoman“ bei den Salzburger Festspielen.
Ursina Lardi und Helga Bedau in „Everywoman“ bei den Salzburger Festspielen.
Ursina Lardi in „Everywoman“.
Ursina Lardi in „Everywoman“.
Ursina Lardi in „Everywoman“.
Ursina Lardi in „Everywoman“.

"Wie möchtest du sterben?", fragt Ursina Lardi und blickt auf eine Leinwand, auf der die todkranke Helga Bedau zu sehen ist, die allein an einer langen Tafel sitzt. Sie hält kurz inne und antwortet: "Zu Hause. Ich würde alles fertig machen und mich dann ins Bett legen. Ich will im Sommer sterben, das Fenster ist offen, es donnert und dann beginnt der Regen."

Es ist ein Moment, der bei der Uraufführung von Milo Raus dokumentarischem Theaterstück "Everywoman" in der Szene Salzburg am Mittwoch für Gänsehaut sorgte. Die 71-jährige Helga Bedau ist unheilbar an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankt. Sie hatte sich bereit erklärt, in Raus "Jedermann"-Paraphrase zum 100-jährigen Festspieljubiläum über ihr bevorstehendes Ableben zu sprechen. Dies sind die Kernfragen, um die das Stück, das mehr Monolog ist, kreist: Wie gehen wir damit um, wenn wir wissen, dass wir bald sterben? Warum haben wir Angst vor dem Tod und wieso wollen wir ihm nicht in die Augen sehen?

Der Schweizer Regisseur Milo Rau und seine Landsfrau Ursina Lardi lernten die pensionierte Pädagogin Helga Bedau während der Recherchen in einem Hospiz kennen, da hatte sie ihre prognostizierte Lebenserwartung bereits überschritten. Im Stück hieß es, Bedau sei in ihren 20ern Komparsin gewesen, vor ihrem Tod wolle sie noch einmal auf der Bühne stehen. Wie es ihr nun hier gefalle, fragt Lardi. "Es ist seltsam, weil ich nicht weiß, ob ich bei der Premiere noch da sein werde", antwortet Bedau trocken. Es sind Aufnahmen, die Liveschaltung zwischen den Frauen ist somit eine Illusion, die jedoch bewusst gebrochen wird. So verlässt Lardi einmal die Bühne über eine Treppe und erscheint kurz darauf auf der Leinwand, um sich zu Frau Bedau an den Tisch zu setzen. Noch bevor ihre gemeinsame Sequenz beendet ist, ist Lardi wieder im Saal und beobachtet das Gespräch.

Generell wird das Spiel immer wieder dekonstruiert, etwa, indem Lardi direkt ins Publikum blickt, und sagt: "Sie fragen sich sicher, worum es hier heute geht?" Es müsse schließlich etwas passieren im Theater, eine Handlung abgespielt werden. Aber das bietet das Stück nicht. Auch eine Moral könne sie nicht abliefern, stellt Lardi klar und fragt: "Warum über Nebensächlichkeiten diskutieren?" Vielmehr sehne sie sich nach einem Abend, an dem alles gesagt sei, ohne dass über alles gesprochen werden müsse - und dass ein Mensch ganz erfasst werde. "Zum ersten Mal wären wir alle gemeinsam auf dieser Welt."

Was Ursina Lardi in ihrem überzeugend inbrünstigen Monolog über die Sanftmut und die Solidarität, die unserer Gesellschaft fehlen würde, formuliert, manifestiert sich auch in der Inszenierung. Die Ausstattung von Anton Lukas kommt ohne Nebensächlichkeiten aus. Lardi trägt Jogginghose, Turnschuhe, ein geripptes Unterhemd und eine rote Kapuzenjacke. Ihr Haar ist locker zusammengebunden. Das Bühnenbild ist schlicht: schwarzer Boden, Ziegelwand, zwei Felsbrocken sind im Hintergrund platziert sowie ein Klavier, auf dem Lardi Bilderrahmen und weitere persönliche Gegenstände, die aus Bedaus Leben erzählen, abstellt. Ein Kassettenrekorder kommt wiederholt zum Einsatz, etwa um den Klang von Kirchenglocken - als Anspielung auf die Domglocken, die den "Jedermann" einläuten - abzuspielen.

Der Text, den Milo Rau mit Ursina Lardi und der Dramaturgin Carmen Hornbostel erarbeitet hat, ist keineswegs geschliffen, sondern zeugt gerade in seinem natürlichen, darauf losgesprochenem Stil von Wahrhaftigkeit. Ursina Lardi, Ensemblemitglied der Berliner Schaubühne, weiß dieses schnörkellose Spiel glaubhaft umzusetzen.

"Everywoman" spürt dem nach, was der schillernde "Jedermann" am Domplatz auslässt. Während Jedermann am Ende der Glauben geblieben ist, sitzt Helga Bedau allein da mit ihrem Schicksal. Sie denkt nochmal an ihren Sohn, an ihre Überführung nach Griechenland, um bei seinem Haus begraben zu werden. Es ist die Sehnsucht nach einer Gemeinschaft, einem Beisammensein, die sie bis zuletzt treibt. Damit ist "Everywoman" die Version des "Jedermann", die die Salzburger Festspiele in diesem Ausnahmesommer brauchen: Kein rauschendes Fest, kein hadernder Machtmensch, der durch den Glauben gerettet wird, vielmehr wird der Vereinsamung innerhalb unserer Gesellschaft auf den Grund gegangen, an Werte wie Solidarität und Empathie erinnert.

Mit jenen Worten, die sonst der Jedermann spricht, schließt auch Helga Bedau: "Nun muss ich ins Grab, das ist schwarz wie die Nacht. Erbarm dich meiner in deiner Andacht." Ihr Blick ist freimütig nach vorn gerichtet. Begleitet wird sie lediglich von Ursina Lardi am Klavier, die Bach spielt. Regen setzt ein und prasselt auf die Bühne. Langsam entgleitet Helga Bedau in den Hintergrund, bis sie schließlich im Dunkeln verblasst.

Milo Rau ist dafür bekannt, in seinen Produktionen mit unverblümten Schauerszenen zu erregen - etwa in "Familie" mit der unmittelbaren Darstellung eines kollektiven Suizids oder in "Mitleid - die Geschichte des Maschinengewehrs", als Ursina Lardi auf die Bühne urinierte. Diesmal kommt Rau ohne Schockmoment aus, versteht es aber, Rührung ob des Schicksals der todkranken Frau zu erzeugen, womit das Stück haarscharf an der Kante zur Rührseligkeit vorbeischrammt.

Als Ursina Lardi nach etwa 80 Minuten mit Helga Bedau im Arm zum Schlussapplaus auftauchte, wandelte sich der zunächst zurückhaltende Beifall in tosenden Jubel. Zurecht war sie der Star des Abends. Ergriffenheit und gar Erleichterung war zu spüren, dass Helga Bedau schließlich doch noch die Premiere persönlich miterleben konnte. Nichts hätte die Angst vor dem Tod und davor, Menschen daran zu verlieren, deutlicher machen können, wie dieser frenetische Applaus bei der letzten Premiere der heurigen Salzburger Festspiele.


Schauspiel: "Everywoman", Uraufführung, Regie: Milo Rau, Szene Salzburg, bis 28. August 2020.

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