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Die EU-Anhänger pflegen die Verweigerung der Realität

Nachdem die EU-Gegnerin 2,7 Prozentpunkte weniger Stimmen bekam als der EU-Anhänger, wird die Rettung der EU gefeiert.

Ronald Barazon

Europa ist erleichtert. Allgemein wird der Umstand gefeiert, dass Marine Le Pen nur den zweiten Platz bei der ersten Runde der Präsidentenwahl in Frankreich erobert hat. Die EU ist gerettet. Der Euro ist gerettet. Die Börsianer jubeln. Die prominenteste Feindin der europäischen Integration ist geschlagen.

Hier scheint eine allgemeine Verweigerung der Realität stattzufinden. Die Rechtspopulistin liegt nur knapp hinter dem vorläufigen Sieger Emmanuel Macron und hat alle traditionellen Parteien überholt. In Frankreich hat die Ablehnung der EU eine breite Basis.

Die gleiche Situation besteht in den Niederlanden. Bei der vor Kurzem stattgefundenen Wahl hat der EU-Gegner Geert Wilders nicht gesiegt, aber den Platz zwei erobert. Daraufhin brach auch in Europa Jubel aus.

Zur Erinnerung: Es waren die französischen und die holländischen Wähler, die 2005 das Projekt einer EU-Verfassung im Rahmen von Volksabstimmungen zu Fall gebracht haben. Das mangelhafte Funktionieren der Gemeinschaft ist wesentlich auf diesen Umstand zurückzuführen.

Alle Umfragen zeigen, dass europaweit auch jene Wähler, die den EU-Gegnern ihre Stimme nicht geben, unzufrieden sind. Die EU wird also nicht aus Begeisterung für Europa, sondern als das kleinere Übel gerettet. Unter diesen Umständen muss man die Ergebnisse in Frankreich und Holland als letzte Warnung für Brüssel verstehen.

Jubel ist wahrlich nicht angebracht. Vor allem nicht, wenn man die Politik einzelner Länder näher betrachtet.

Großbritannien verlässt die Gemeinschaft. In Polen und in Ungarn wollen die Regierungen die Zentralstellen in Brüssel schwächen und die Rechte der Mitgliedsstaaten stärken. Polen ist intensiv um Unterstützung aus den USA bemüht, Ungarn orientiert sich nach Russland. In allen EU-Staaten gewinnen die Gegner der Union an politischem Gewicht. Der Zusammenbruch muss heute als konkrete Gefahr erkannt werden. Und sollte Le Pen wider Erwarten im Mai doch gewinnen, dann bricht die totale Krise schon in wenigen Wochen aus.

Um das Friedensprojekt zu retten und zu verhindern, dass die Mitglieder zu bedeutungslosen Kleinstaaten im globalen Wettbewerb absinken, braucht die EU eine Verfassung, die für klare Verhältnisse sorgt: Welche Aufgaben nimmt die Union wahr? Welche Rolle spielen die Staaten, die Regionen? Alle derzeit geäußerten Reformvorschläge vermeiden dieses Thema und sollen nur das herrschende Chaos etwas besser ordnen.

Auf diese Weise und mit unbegründetem Jubel wird man die EU nicht retten können.
Es ist fünf Minuten vor zwölf.