SN.AT / Kolumne / Barazon / Barazon

Ungarn zerstört jetzt das Fundament der EU

Ronald Barazon


Um Mitglied der Europäischen Union werden zu können, muss ein Staat beweisen, dass seine Rechtsordnung dem sogenannten "acquis communautaire" entspricht. Es handelt sich dabei wörtlich um das "gemeinsam Erworbene", also um die Grundlagen der Gemeinschaft, die nur demokratische Rechtsstaaten mit einer entsprechenden Verfassung und deren Umsetzung durch unabhängige Gerichte akzeptiert.

Offenbar konnten sich die Gründungsväter der EU nicht vorstellen, dass ein Staat, der einmal ein demokratischer Rechtsstaat geworden ist, diesen Status wieder aufgeben würde. Also gibt es zwar ein strenges Aufnahmeverfahren, die EU ist aber hilflos, wenn ein Mitglied den "acquis communautaire" verlässt. Genau das geschieht aber bereits seit Längerem in Ungarn, diese Woche wurde allerdings die letzte mögliche Grenze überschritten.

Die durch eine Zweidrittelmehrheit im Parlament abgesicherte Regierung hat bereits die Verfassung geändert, die Meinungsfreiheit eingeschränkt, Kultureinrichtungen mit ihren Vertrauensleuten besetzt und rechtsextreme Aktivitäten begünstigt. Bisher ist aber das Verfassungsgericht immer wieder eingeschritten und hat Gesetze aufgehoben, die die Grundrechte verletzen.

Die Regierung hat nun diese Woche einen Gesetzesentwurf eingebracht, der das Verfassungsgericht entmachten soll. Dem Beschluss steht angesichts der Mehrheitsverhältnisse nichts im Weg und so wird in Kürze Ungarn endgültig nicht mehr die Voraussetzungen aufweisen, um ein Mitglied der EU zu sein.

Wenn nun, und dies ist zu befürchten, die anderen Staaten nicht aktiv werden und Ungarn nicht aus der EU ausschließen, ist das Fundament der EU zerstört.

Künftig gibt es keine Handhabe gegen Staaten, Organisationen oder einzelne Personen, die die Grundrechte verletzen, rechtsextreme oder anders motivierte bisher rechtswidrige Aktionen setzen. Ungarn liefert jetzt einen Präzedenzfall, der, falls nicht doch noch eingeschritten wird, als Legitimation gelten wird. Einen Staat, der Mitglied werden möchte, wird man nicht mehr auf den Prüfstand des "acquis communautaire" stellen können.

Zwar kennt die EU selbst kein Ausschlussverfahren, doch bietet das Völkerrecht eine Möglichkeit. Das auf Initiative der UNO getroffene "Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge" ist seit 1980 in Kraft und von mehr als hundert Staaten ratifiziert. Der Artikel 62 dieser Vertragskonvention bestimmt, dass das Mitglied eines Bündnisses ausgeschlossen werden kann, wenn Umstände eintreten, unter denen die Aufnahme nicht erfolgt wäre. Und mit den derzeit in Ungarn herrschenden Bedingungen wäre eine Aufnahme in die EU nicht möglich.

Nur: Weder der Rat noch die Kommission noch der EuGH haben eine Basis für einen derartigen Schritt. Kurzum, die EU dürfte gelähmt zusehen, wie in Ungarn das Fundament der Gemeinschaft zerstört wird.