SN.AT / Kolumne / Blog / Matchplan 26/06

Aufstand gegen die Weltordnung

Unordnung bis zur letzten Minute - und darüber hinaus. Gruppe B, ein Hort puren Vergnügens.

Bernhard Flieher

Die Verwirrung ist enorm. Bei den Schiris. Bei den Spielern. Im Videokammerl. Und also auch beim Zuschauen. Und wie immer passiert alles ganz am Ende, oder noch danach. "Nachspielzeit" ist schon jetzt ein WM-Wort dieses Jahres. Und der Satz: "Es zählt das Ergebnis nach 90 Minuten" gilt in Tipprunden halt erst ab dem Achtelfinale. Aber welch Unterhaltung! Bisweilen am Rand des Nervenzusammenbruchs, mitten in der Rudelbildung und voller gefühlter Ungerechtigkeiten hüben wie drüben! Und ein bisserl unwürdig war sie auch diese Unterhaltung, weil gar so viel geschimpft und geschubst und gestänkert werden musste, weil sich zu oft ungerecht Behandelte ungerecht behandelt fühlen dürften und weil zu oft beleidigt unschuldig Tuende der Hinterhältigkeit überführt werden konnten.

Aber trotzdem war jenseits all des Durcheinanders und Wirbels, des Rechnens mit Live-Tabellen dieser Abend der beste Abend dieser WM bisher. Vielleicht war es nicht der beste Abend aus taktischen Gründen. Aber es war ein wunderbarer Abend wegen des puren Entertainments und wegen des Aufstandes jener, die von den Klischeebewahrern und den kleinformatigen Berichterstattern gerne übersehen und deshalb aus kompletter Unkenntnis oder aus Ignoranz immer nur "Kleine" genannt werden.
Dieser bunte Abend bezog seine Energie vor allem daraus, dass die vorgesehenen Sieger, die Spanier und die Portugiesen, doch tief in Abgründe blicken mussten. Und zwar nicht so wie Deutschland oder Argentinien von der Ferne der ersten beiden Runden, einer Ferne, aus der man womöglich noch den Kurs ins drohende Abseits ändern kann. Nein. Der Abgrund war ganz nahe, weil er wie aus einem scheinbaren Nichts kam.
Das kommt davon, wenn im Vorhinein eh alles klar ist. Da muss, wenn dann doch alles (fast noch) anders kommt, mit vielem schwer gerungen werden. Um ein bisschen Luft, mit der man weiterleben will. Um die richtigen Worte. Um Fassung und Haltung, damit man zugeben kann, dass man das alles so ganz und gar nicht vorhersehen hatte können. Aber eben genau diese Unvorhersehbarkeit gehört zum großen Vergnügen beim Kicken - also beim Zuschauen, beim Kicken auf dem Feld zehrt das Unvorhergesehene unglaublich an den Nerven.

Aber der Ball ist rund, damit das Spiel für die Vergnügungssüchtigen die Richtung ändern kann. Oder, um Tipprunden-Master Peter B. (er korrigierte seinen Portugal-Sieg-Tipp übrigens 43 Minuten vor Spielbeginn auf ein 1:1, dieser Prophet!) zu zitieren: "Die Papierform ist auf äußerst dünnem Papier geschrieben." Dass dieses Papier dann doch nicht zerriss, lag daran, dass sich der Fußball gerade bei Weltmeisterschaften meist in alter Ordnung übt. Vielleicht gerecht und trotzdem leider. Also spielen im Achtelfinale Spanien (gegen Russland) und Portugal (gegen Uruguay). Aber bis zum Achtelfinale waren es denkwürdige 90 Minuten und Nachspielzeit.
Leicht zu erraten ist, dass bis hier nicht die Rede von der Langeweile in der Gruppe A sein kann. Da feierte Saudi-Arabien einen ersten, sinnlosen Sieg gegen ein leidendes, sich auflösendes Ägypten. Das Tor zum 2:1 fiel in der fünften Minute der Nachspielzeit, der Ausgleich für Saudi Arabien war übrigens in der Nachspielzeit der ersten Hälfte gefallen. Und im anderen Spiel der A-Gruppe zeigte Uruguay, dass die Stärke des russischen Kollektivs aus den ersten beiden Partie nicht mehr viel wert ist, wenn sie es mit kreativen Wuslern und überzeugten Ballkünstlern zu tun bekommt. Aber darum geht es nichts. Es geht um Gruppe B.
Wir erinnern uns: Diese Gruppe begann mit dem herrlich dramatischen Portugal gegen Spanien. Nach dieser Partie meinte BBC-Experte Chris Waddle, er könne nun auch heimfliegen, weil ein besseres Spiel würde die WM wohl nicht mehr zu bieten haben. Das vielleicht nicht. Aber hoffentlich sah Waddle, wie der Iran sich in jeden Zweikampf warf gegen Portugal und wie Spanien zwar recht überlegen war, aber Marokko leicht hätte siegen können. Alles war Drama, Drama, Drama.
Da missverstanden sich zwei, die sich sonst blind und taub verstehen (Sergio Ramos und Iniesta) und Marokkos Boutaib verwandelte zum ersten Tor seines Team bei dieser WM. Da wurde bei Iran gegen Portugal der Videobeweis zur Dauereinrichtung. Iran-Goalie Alireza Beiranvand wird seinen Enkelkinder erzählen können, dass er einen Elfer von Ronaldo aus der Flugbahn holte. Und am Ende, als alle Ordnungen aufgelöst sind, rennt Iran auf das portugiesische Tor zu, bekommt einen Elfer und schießt Portugal noch auf Tabellenplatz zwei. Oder doch anders: Haben sich die Spanier gleichzeitig mit dem Ausgleichstor gegen Marokko (in der Nachspielzeit) auf Platz eins geschossen? Alles egal. Marokko hadert. Die Iraner sitzen und weinen. Allah ist groß, aber die Maria von Fatima hat offenbar auch mitgespielt. Und die Iraner möchten gar nicht vom Platz gehen. Und sie haben recht. Jede Sekunde zählt, die man noch bei der WM bleiben darf. Diese Mannschaft hat jede Sekunde verdient.
Es war also ein Zittern am Ende. Und dieses Zittern gehört ja immer schnell den vermeintlich Schwachen. Der Iran kämpft um jeden Ball. Die Marokkaner trotzen dem spanischen Kurzpass. Nüchtern betrachtet haben beide nichts davon. Nichts bleibt ihnen, wenn man nur die Zahlen zählt. Nach Zahlen fahren die Iraner und die Marokkaner heim. Das ist - erst recht nach diesem Abend - gerade für den Iran bitter und für uns schade. Der Iran bereicherte dieses WM - nicht mit Brillanz, dafür aber mit einem Plan, der von Herzen kam und mit Herz gespielt wurde. Dass Saudi Arabien ein paar Stunden zuvor gewinnen durfte, mutet da wie ein geopolitisch von bösen Mächten eingefädelter Hohn an. Schwächer als die Araber zeigte sich bisher vielleicht nur Südkorea.
Und so ist es am Ende doch die alte, papierformene Ordnung, die besteht bleibt: Iniesta geigt auf und vorn trifft irgendeiner und Sergio Ramos wird schnell vergessen, dass er bei beiden Gegentoren mithalf. Portugals Defensive gerät auch im Wanken und Zittern nie ganz ins Fallen. Und es muss nun, in der Nachspielzeit, freilich schon dazu gesagt werden: Wer tatsächlich jenen Elfer sah, den der Iran bekam, der soll sich um alles bemühen, aber nicht um den Job des Videoschiedsrichters. Aber was soll's jetzt noch? Schön war's an diesem Abend ins Schwitzen zu geraten, weil es so hin und her ging. Und ganz am Ende inklusive Nachspielzeit war's vor allem schön für Herrn Peter, den Zitatspender und Tippsieger dieses Abends.