Hätten die Dänen ihre Elfmeter so geballert, wie an diesem Abend die Rücktritte per Eilmeldung daher folgen, dann wäre Luka Modric womöglich als nächster Großfußballer auf Urlaub gefahren. Und er wäre der Trottel gewesen, auch wenn er doch als Herz pocht, aus dem die Ströme des kroatischen Spiels laufen. Aber er vergab einen Elfer vier Minuten vor Ende der Verlängerung. Besser: Dänemarks Goalie Kasper Schmeichel (ja genau, der Sohn!), der nach dieser WM sehr, sehr viel Geld wert sein wird, hielt Modric' Elfer vier Minuten vor Ende der Verlängerung, und er hielt dann noch zwei Mal, weil ein Elferschießen sein musste. Aber es half nichts. Modric und die Kroaten können bei der WM bleiben.
Dafür verlässt (jedenfalls war's das die Nachrichtenlage bei Spielende) unter anderem Horst Seehofer, rechter Außenpracker der bayerischen CSU (ChaosSturmUmtreiber) und Mitglied der Generation "Hau immer wieder drauf, irgendwie geht er dann schon rein", die Blutwiese. Bei diesem Rücktritt werden sich die Tränen in bayrischen Grenzen halten, wenn sie nicht gar zurückgewiesen werden aus politisch-strategischen Erwägungen, die wenig mit der Realität, dafür aber mit Machtspielerei zu tun haben müssen.
Im anderen Fall umspült allerdings schon ein Meer aus Tränen der Erinnerung die Abschiedsmeldung: Wir sahen Andres Iniesta zum letzten Mal in der spanischen Nationalmannschaft, nachdem wir ihn im späten Frühjahr schon zum letzten Mal für Barca spielen sahen. Dass er, der 34-jährige Motor im Tiki-Taka-Land zu Vissel Kobe nach Japan wechselt, war bekannt. Auch dass er nach dieser WM nicht mehr in der Nationalmannschaft spielen wird, war klar. Sein Rücktritt kommt nicht aus dem Hinterhalt und nicht aus Hilflosigkeit oder Verspekulierung. Iniesta ist keine Politiker. Iniesta ist ein Kraftwerk, das Mut macht, wie der spanische Fußballverband per Twitter den Abschied voller Dankbarkeit kommentierte. Aber nun kommt der Abschied doch überraschend schnell daher.
Das lag an einer 5-4-1-Mauer der Russen, die sich ganz in griechischem Europameister-Stil erst gar nicht um Offensive gegen Spanien kümmern wollten. Das Motto war simpel: Sollen doch die anderen spielen und schauen, was geht. "Nicht-Wollen" und "Nicht-Können" unterscheiden sich da nicht. Und die anderen spielten ja eh ihr Spiel. Tika-Taka wie gewohnt, schon anzusehen wegen der technischen Feinheiten, aber eben manchmal doch unerträglich bis zur Langeweile und an diesem Abend ungefährlich.
Dass es nicht reichte für das spanische Stakkato-Hin-und-Her, passt gut zu einem Tag, an dem sich die Veranstalter der Tour-de-France entschieden haben, Chris Froome heuer nicht antreten zu lassen. Froome ist mehrfacher Toursieger. Seit vergangenem Herbst ist er Doping verdächtig und immer noch gibt es dazu kein Urteil. Froome fährt so Rad, wie Spanien kickt: hohe Frequenz, irres Tempo, die Beine so schnell, dass einem schwindlig werden kann. Was bei den spanischen Kicker an den vielen guten Abend, den Abenden, an denen sie ihre Kurzpässe mit Dynamik verbinden konnten, so verzaubert, schaut bei Froome immer komisch aus.
Dass Andres Iniesta, der auch in ärgster Umzingelung ein Loch für den Ball findet, uns nun schon nach dem Achtelfinale verlässt, lag auch daran, dass der spanische Kurzpass gegen die Russen ins Leere lief, zum Selbstzweck verkam. Der Kurzpass, dessen Kraftzentrum seit Jahren Iniesta heißt, fand nie ein Ziel. Fast zufällig schienen sich die Chancen (eine der größten hatte Iniesta mit einem Schuss vom 16er selbst) zu ereignen, die dann nicht vollstreckt wurden. Die übermächtigen Ballbesitzer rotierte um sich selbst. Daran konnte auch Iniesta nichts mehr ändern, der dieses Mal nicht von Beginn an Bälle aus dem Nichts annahm und sie geräuschlos an die Richtigen weiterschickte.
66. Minute. Nummer 6. Iniesta kommt ins Spiel. 6-6-6. The Number of the Beast, wie Iron Maiden die Offenbarung des Johannes im Jahr 1982 zu einem Albumtitel umfunktionierten. Oder wie es im biblischen Original bei Johannes steht: "Hier ist die Weisheit. Wer Verständnis hat, berechne die Zahl des Tieres; denn es ist eines Menschen Zahl; und seine Zahl ist sechshundertsechsundsechzig." Biblisch mag mit dem "Tier" der Antichrist gemeint sein. Fußballerisch kommt hier in der 66. Minuten die Nummer 6 auf das Feld und unter dem Trikot steckt ein Ball-Biest, ein Pass-Monster, eine präzise Maschine, die keine Geräusche macht, sondern - bisweilen unscheinbar - läuft und alles im Laufen hält. Iniesta spielte, dank Verlängerung, eine Stunde. In dieser Stunde hatte er 53 Ballkontakte. Auf russischer Seite war der eingebürgerte Spanier Mario Fernandes Spitzenreiter in dieser Statistik. Er bekam den Ball in zwei Stunden, aber lediglich 77 Mal an den Fuß. Dennoch: Elferschießen.
Nun hat ein Elfmeterschießen niemals mit Gerechtigkeit zu tun. Es ist die allerletzte, im Grund verdammenswerte Weise, wie Fußballspiele entschieden werden sollten. Wer hier nicht zittert, auch wenn ihm beide Teams egal sind, hat kein Herz. Spanien hat nun bei einer WM zum vierten Mal ein solches Drama verloren und sollte (in einträchtiger Verbundenheit mit England vielleicht) für eine anderen Art der Entscheidung plädieren - zum Beispiel könnte man die Zahl der Pässe rechen: Spanien spielte in den 120 Minuten Matchzeit rund 1100 Pässe. Geholfen hat es nichts.
Für die Russen geht deshalb eine Party weiter, von der sie annahmen, früh heimgeschickt zu werden. Prolongiert hat das Team - oder besser sein viel gescholtener und nun zum Helden aufgefahrener Torwart Igor Akinfejew - eine Serie, in der die Gastgeber per Elfer im Turnier bleiben. Oft, wenn sich die WM-Veranstalter in die allerletzte Entscheidung gerettet hatten, gewannen sie: 1998, Frankreich gegen Italien; 2002, Südkorea gegen Spanien; 2006, Deutschland gegen Argentinien; und auch zuletzt 2014, Brasilien gegen Chile. Dass zwei dieser vier Teams später auch den Titel holten, sollte die Russen nicht übermütig werden lassen. Ohne Spiel gewinnt man nicht. Oder wie war das einst mit den Griechen?