Heute spät nachmittags geht's also nach Hause für Argentinien oder Frankreich. Das passiert, weil KO-Runde ist. Es ist auch völlig okay, dass es einen dieser beiden erwischt so früh im Turnier (und was sollten denn die Deutschen sagen, oder gar die Italiener oder Niederländer?). Beide, Frankreich und Argentinien, so etwas wie Mitfavoriten, jedenfalls werden beide immer vor Beginn einer WM zu denen gezählt, an die es Erwartungen gibt. Spielkultur. Genie-Zauberei. Das möchte man so gerne sehen. Daheim an der Seine und am Rio de la Plata sowieso, aber auch anderswo. Tradition. Klischees. Große Namen, große Geschichte(n) und deshalb viele Mitreder. Heimatkunde, also Folklore. Jene Elemente, die es nur bei den so genannten Großen gibt. Und diese Elemente verfolgen uns dann in der Berichterstattung. Der Blick auf das, was beide Teams in der Vorrunde geboten (verbrochen?) haben, wird getrübt von der immer gleichen Phrasendrescherei. Also hier noch einmal schnell die Kurzversion: Frankreich antriebslos bis zu Spielverweigerung, Argentinien (fast) allein in der Hoffnung auf Messi (gerade noch nicht) verloren.
Egal wie Argentinien gegen Frankreich spielt, man darf sich jedenfalls Sorgen machen. Zuerst macht man sich Sorgen um eine vermeintliche aber unvermeidliche Nebensache, um Diego Maradona. Im Grund ist allein die Teilnahme der Argentinier eine der größten Herausforderungen für die private medizinische Abteilung des besten Fußballers überhaupt. Maradona ist - in Sieg oder Niederlage - höchst gefährdet. Zusammenbruch oder Ausflippen liegen da so eng zusammen, wie die Abwehr der Isländer an Lionel Messi dran war. Dass die Langweiliger und Ordnungshüter, also die Gotteslästerer nach Maradonas bizarrer Show mit Trikotweihe, Stinkefinger, Wegdämmern, Jubelgeschrei und Beatmungsgerät gegen Nigeria, meinten, er beschädige seinen Ruf, ist lächerlich (welchen Ruf überhaupt?). Maradona ist Punk. Der ist leider in Stromlinienförmigkeit der Gegenwart aus der Mode gekommen. Aber Gott steh' ihnen bei diesen Ungläubigen, diesen Nörgerln und diesen Angepassten, die Anordnungen der Fifa für eine Wohltat und jedes Regelwerk für eine unveränderliche Heilige Schrift halten. Und mit dem Gott, der ihnen beistehen möge, diesen Überbraven, ist der Geist gemeint, der in Diego ewig lebt.
Die Sorgen um Frankreich und Argentinien liegen aber ohnehin woanders, sie breiten sich aus, wegen eines anderen Geistes, der um sich greift. Noch ist das eine Spiel nicht gespielt und also liegen diese Sorgen in Argentinien und Frankreich noch dort begraben, wo sie in Deutschland in den vergangenen beiden Tagen schon hervorgekrochen sind. Die Gruft der Untoten hat sich geöffnet.
Wahrscheinlich werden die französischen oder argentinischen Medien ebenso über ihre Ausgeschiedenen herfallen, wie das in Deutschland gerade passiert. Gut, vielleicht ist der Fall nicht ganz so tief wie bei den Deutschen. Aber auch in Paris oder Buenos Aires werden nach dem Heimfahren die Spielsysteme zerlegt. Manche Spieler. sonst Heiligen gleich verehrt, werden in Einzelkritik kompletter Unfähigkeit bezichtigt. Alles wird falsch gewesen sein. Die Trainer werden in Frage - also an den Pranger der Selbstgerechten - gestellt werden. Götter werden stürzen und aus den Löchern angeblicher Unsterblichkeit kriechen jene, die es eh immer schon gewusst haben, die eh schon lang gewarnt hätten. Also wird, wer immer auch aussteigt an diesem Nachmittag da, kaputt expertet, geschrieben und diskutiert werden. Und ich werde froh sein, kein Wort davon zu verstehen, kein französisches und kein spanisches. Das macht es es einfacher, Frankreich und Argentinien als Länder und als Mannschaften lieb zu behalten. Die Idioten werden auch dort im Sumpf der Klischees watet. Aber ich werde es halt nicht verstehen.
Mit Deutschland ist das anders, weil uns - um den großen Karl Kraus umzudrehen - diese gemeinsame Sprache ja doch so sehr verbindet. Und das ist in diesen Tagen fürchterlich.
Jetzt, nach dem Ausscheiden, sind sie nämlich aus der Deckung - oder ihrer fußballerischen Arbeitslosigkeit gekrochen, die Matthäuse und die Baslers und die Vogtse und die Effenbergs. Sie reden von falscher Mentalität. Von Selbstherrlichkeit und Überschätzung reden dieses Paradeexemplare der Überheblichkeit und Besserwisserei. Von Planlosigkeit plappern sie. Sie reden davon, dass das System nicht stimmt. Und das furchtbare ist: Wenn sie System meinen, meinen sie Anschaffen. Voranmarschieren. Sie meinen eine Welt in der totaler Gehorsam als Tugend und Nachrennen als Notwendigkeit aufgefasst wird. Sie reden von einer Diktatur, die nur durch bloße Kraft besteht. Sie reden nicht von einer Spielkultur, die durch Vielseitigkeit und Kreativität blüht.
Und also sie reden auch von fehlender Führung, von fehlenden Führungspersönlichkeiten. Sie reden also davon, dass sie den starken Mann vermissen. Sie glauben, dass sie über Fußball reden. Sie merken aber nicht, dass es diesen, "ihren" Fußball zumindest in den vergangenen zehn, 15 Jahren in Deutschland nicht mehr gab, Und wie herrlich war das anzusehen, diese (nicht nur auf Deutschland beschränkt) Auslöschung der Gewalt, dieses Hinwendung zum fließenden Spiel, zum Ineinandergreifen so vielen Ideen. Aber die Matthäuse und Baslers und Effenbergs - und mit ihnen die alt gewordenen Reporter wie Waldemar Hartmann, die dann sagen "Fußball ist Krieg", sie können wieder so reden und bekommen Platz in Talkrunden und in Zeitungen. Einerseits können sie nur so reden, weil sie nichts anderes kennen. Das möchte man diesen einfachen Geistern ja gerne verzeihen. Sie können aber auch so reden, weil ihr Ton wieder so grauslich salonfähig wurde, Wenn Matthäus, Basler oder Effenberg, die einstigen Spielführer, den Mund aufreißen, stopft ihn keiner. Denn sie stimmen damit ja nur in weit über den Fußball hinaus reichende, ungustiöse Töne ein. Sie sind die Gaulands und Burschenschafter des Fußballs. Sie sind die AfD oder die Identitären oder die Reichsbürger am Spielfeldrand. Sie ziehen die Grenzen dort, wo sie alles Andere nicht mehr verstehen. Und also ist diese Andere ein Störfaktor, muss ausgesperrt werden.
Wenn nun das System Löw, ein feines Geflechte aus Taktik, Psychologie und Gemeinschaftsgeist bröckelt, dann hat das viele spiel- und teeminteren Gründe und es spiegelt wohl aber auch das Bröckeln einer Gesellschaft. Die Luftigkeit ist vorbei. Das Lässige ist - im Moment - gestorben. Das alles lässt sich durch konsequente Analyse, durch Vernunft und durch den Blick auf das große Ganze ändern und bessern. Das Geplärre jedoch, das nun aus der Gruft untoter Ideologien tönt, hilft nichts, um die Lage richtig einzuschätzen. Dieses Geplärr aber zieht gefährlich die Massen in ihren Bann, die dann nichts Besseres zu tun haben, als gedankenlos mitzubrüllen.