Football, bloody hell! So sagte es Alex Ferguson damals im Mai 1999 in den Katakomben von Camp Nou. Dabei war Ferguson der Sieger des Abends. Manchester United hatte ein paar Minuten zuvor den FC Bayern München in die Hölle geschickt. Zwei Tore. In der Nachspielzeit. Football, bloody hell. Ferguson, ein Weiser, der weiß, was es bedeutet, Verlierer zu sein und auch ein Edler, der im Sieg nicht auf die Demut vergisst, fasst in drei Worten zusammen, was Fußball aufregend macht, was ihn unerträglich macht, was Fußball sein kann: Eine fürchterliche Erschütterung für die Nerven, ein Gift für die Gelassenheit, ein Blick in den Abgrund, ein Hin und Her, das selbst jene, die sich bei einem Match auf keine Seite schlagen, ins Schwitzen kommen lassen kann. Also: K.O.-Runde. Also: England gegen Kolumbien. Also: Es muss einen Gewinner geben.
Football, bloody hell - das war der Satz, der die englische Mannschaft in der Verlängerung des Achtelfinales gegen Kolumbien, erstarren ließ. Recht gut war es gegangen für die frische englische Spielkultur (auch wenn ganz vorne an diesem Abend und schon bisher nicht immer viel davon zu sehen war). Nicht überragend, aber doch mit jenem Quäntchen Selbstsicherheit, mit dem man Spiele gewinnt (herunterspielt, abspult, zu Ende nudelt) nach einem Elfmeter. Harry "Wer denn sonst" Kane haute ihn rein. 1:0. Cool sah aus, was England tat und wie es gelang, den Kolumbianern nichts tun zu lassen. Bis in die Nachspielzeit. Eckball. Mina. Ausgleich. Killer Kolumbien. Bloody hell oder - um die ewigen Nörgler zu bedienen: "This is England, this how I feel", singen The Clash. Und so vergeigen sie's dann immer wieder gern.
Und da war es dann auch minutenlang komplett vorbei mit England, das schon in der zweiten Halbzeit wankte zwischen Konzeptlosigkeit und Verwaltung, einem England, das in der Verlängerung lange Zeit ohnmächtig irrte. Seine eigene Kunst derart zu vernachlässigen, ist erstens gemein für uns Zuschauer und zweitens eine saublöde Idee. Denn die Engländer verfügen ja nach vielen, vielen Jahren nicht nur über die traditionelle Hoffnung, dass die Jahre des Schmerzes (sie dauern seit dem WM-Titel 1966 an) endlich vorbei sein könnten. Eine Hoffnung, die ins Leere ging, war das aber immer wieder, und selten zog man aus der Zerstörung der Hoffnung eine Lehre. Dieses Mal hat die Hoffnung aber spielerischen Inhalt. Und sie hat Killer Kane. Allein, was helfen die Hoffnung, wenn man sie nicht hervorholt, und Kane, wenn er das Spiel machen und auch noch Tore schießen soll? Der Mann ist ja kein Messi! Obwohl das in diesen Tagen ja eh nur als Kompliment verstanden werden kann. Und dann, als es ganz eng wurde, war spätestens den Treuesten klar: Hier spielt keine der Übermannschaften dieses Turniers. Hier spielt das Team, das nur gegen Tunesien und Panama flott überzeugte und das gegen Belgien mit einer B-Truppe gegen eine andere B-Truppe verloren hatte.
Für diese B-Aufstellung war Trainer Gareth Southgate daheim massiv kritisiert worden. Was wäre das also gewesen, hätte das Team nun nicht gesiegt? Und nichts wäre die Stille nach dem Tod Lady Dianas gewesen im Vergleich zur kollektiven Wehleidigkeit (freilich ganz schnell gefolgt von menschenverachtender Pöbelei auf dem Boulevard der Mega-Schlagzeilen), wenn das ausgerechnet dem ehemaligen Elferverschießer Southgate mit seinem Team im Elferschießen passiert wäre?
Aber Schluss jetzt mit einer Vergangenheit, die schöne Geschichten liefert, aber nichts zum Spiel und schon gar keine Erkenntnis zur Spielanlage beitragen kann. Nebenbei: Das könnte man auch einmal ORF-Kommentator Thomas König sagen, der sich ab Mitte der zweiten Halbzeit im eigenen Wortrausch voller sinnloser Histörchen und Statistiken suhlte, gefühlte 1000 Mal vom englischen Elfer-Trauma fabulierte (fast so, wünschte er es herbei - oder als fiele ihm nichts anderes mehr ein) und dabei übersah, wie das Spiel sich tatsächlich entwickelte.
Dass England dann doch tatsächlich ein Elferschießen gewann, mag die Historiker und Trauma-Experten freuen - neue Story, neuer Unsinn für Jahrzehnte, heftiger Einschnitt für Statistikverliebte. Für die Einordnung der englischen Leistung ist dieses Elferschießen, wie jedes Elferschießen, unbrauchbar. Gut geschossen. Sicher. Aber es zählt für eine Vermessung der englischen Leistung vielleicht mehr, dass England endlich einmal einen Goalie hat, der diesen Job auch wirklich erfüllt. Und vielleicht kann Freunde Englands auch beruhigen, dass Harry Kane in diesem Turnier schon vier Elfer verwandelt hat. Manchmal werden Tore aus dem Spiel ohnehin überbewertet, weil es gelten auch Kopfbälle nach Eckbällen (Kane) und Freistößen (Kane). Durchkommen - gar bis ins Finale - wird man mit damit aber wohl nicht. Southgate braucht einen Plan, bei dem nicht viel zu oft vorn in der Mitte schon am 16er Schluss ist. Dass die kolumbianische Innenverteidigung bravourös arbeitete, kann nicht als Ausrede gelten. Gute Arbeit leisteten bisher auch die russischen Innenverteidiger.
Es gilt also: Football, bloody hell. Für die Three Lions, die Sieger, die am Rand des Nervenzusammenbruchs torkelten und sich beinahe verloren. Für die Verlierer, die wackeren, aber doch zu ungestümen Kolumbianer, gilt es sowieso - umso mehr als die zwischendrin wie vermeintliche Bald-Gewinner aussehen konnten.
Ach ja, man kann ob der von England verschuldeten, gewaltigen Dramatik des Abends den Nachmittag davor leicht vergessen. Schweden hatte da komplett einfallslos, wie es seine Art ist, die Schweiz mürbe gemacht und kaputt gearbeitet und rennen lassen. Die Schweiz hatte sich - viel zu zaghaft, viel zu einfallslos - an schwedischer Strenge abgearbeitet und ist daran zerschellt.
Also stehen die schwedischen Einfaltskicker wegen eines Arbeitssieges jetzt im Viertelfinale gegen zeitweise heftig überforderte Engländer. Und über beide Teams muss man sagen: Im Gegensatz zu Uruguay oder Belgien oder Frankreich und gar Brasilien sind sie dort nur deshalb nicht ganz fehl am Platz, weil am Ende halt das Ergebnis zählt. In diesem Fall ein verwandelter Elfer (oder aus Sicht des Torwartes Jordan Pickford ein gehaltener Elfer) mehr. Fußball aber sieht ganz anders aus, als bei den Engländern in der zweiten Halbzeit und in der Verlängerung und er sieht noch einmal ganz anders aus als bei den Schweden. Aber in einer K.O.-Runde besteht die Hoffnung, dass alles immer noch ganz anders kommen kann. Drama, Baby. Nerven beruhigen und dranbleiben.