SN.AT / Kolumne / Blog / Matchplan 03/07

Harakiri, verübt beim Eckball

Raum und Geschwindigkeit machen Freude - nur nicht den Japanern, die den Luftraum unterschätzten.

Bernhard Flieher

Der Berger Gustl oder irgendein anderer Vorstadtheld war zu einer einzigen taktischen Weisheit gekommen. Die aber schrie er Match für Match hinaus; dorthin, wo ein paar Unterklassige auf einem Acker, den sie Spielfeld nannten, eher herum droschen als kickten. "Flach spielen, hoch gewinnen", schrie er, so als hätte er den Cruyff Johan persönlich gekannt in den 1970er und als hätte er schon damals in der Ferne das Tika-Taka-Land der Spanier erspäht. In Japan war er übrigens auch nie, der Vorstadtkickheld. Dann hätte er den Japanern nämlich gesagt, dass seine taktische Weisheit recht oft, vor allem aber dann gilt, wenn die anderen größer sind.

Zum Beispiel sind die Belgier im Durchschnitt fast 10 Zentimeter größer als die Japaner. Und weil das so ist, bringen hohe Bälle in den Strafraum der Belgier eher nichts. Außer Gefahr für die Eckballschießer. Denn dann wird so ein Ball abgefangen, schnell ins Spiel zurück befördert, dann wird gerannt, ein zwei, drei Stationen nur, weil die Belgier nicht bloß größer, sondern auch wendiger und zielstrebiger sind, können sie das gut, dieses rasante Vorwärtsspielen in blindem Verständnis füreinander. Wenn ein Raum aufgeht, sind sie nämlich schon drin. Lange haben die Japaner diese Räume fest verschließen können. Aber dann war nach einem hohen Eckball, einem taktischen Offenbarungseid, der Raum hin zum japanischen Tor ewig weit und frei, weil die Japaner sich ja noch in der anderen Spielfeldhälfte derrappeln mussten von nicht zu gewinnenden Luftkämpfen. Und vor dem japanischen Tor war die Luft frei, durch die drei Belgier sausten. Dann bumm. Dann aus. Ganz aus. Vorbei. Denn richtig blöd ist es, wenn's 2:2 steht und eh schon fast Verlängerung ist und man als Kleinerer auf unumstößliche Weisheiten vergisst und auf die Idee kommt, jetzt noch alles mit einem hohen Eckball, mit einer Gewalttat, mit der Brechstange zu richten. Und so fährt man als Japaner dann von einer WM nach Hause, bei der man schon fast eine halbe Stunde lang im Viertelfinale gestanden war. Es war ja zuvor schon 2:0 gestanden, weil die Japaner 90 Minuten lang konsequent flach und flott über die Flanken kamen und so gab es zwei Schüsse, zwei Tore und wieder schrammte ein Achtelfinale dieser WM entlang jener so schmalen Linie, die manchmal zwischen Sensation und Normalität verläuft. Und wieder war die Nachspielzeit Killer und Siegmacher.

Da lagen sie also dann die armen Japaner. Die Dramaturgie war perfekt, das Drama groß und letztendlich hatte dieses Drama jenen Überlebenden, den es auch verdiente.

Das dürfte Guillermo Ochoa, mexikanischer Goalie, anders sehen. Vielleicht freut er sich mit Belgien, weil er bei Standard Lüttich spielt (womit er einer der wenigen ist, die es aus der belgischen Liga zur WM schafften; die meisten Belgier kicken in England). Sonst aber muss Ochoa es wohl so sehen, dass er es verdient hätte weiterzukommen, der Rest seines Teams ihm dieses Glück aber nicht bescheren konnte. Egal von wo der Ball kam, Ochoa hielt was ging. Und zwei Mal ging es eben nicht. Da stehst du dann arm im Tor und nicht klüger, aber trauriger als zuvor.

Arbeit getan. Abputzen. Als nächstes Belgien abpassen. So verlief das Match für Brasilien. Und das ist gar nicht böse gemeint. Es war halt irgendwie dann doch die erwartete Normalität auf höchstem Niveau. Man wird ja unbescheiden, wenn das Potenzial von Brasilien leuchtet und strahlt. Und so war eines der besten Spiele dieser WM bisher, das Brasilien zur Hochform trieb, weil Mexiko groß mitspielte. Warum Mexiko das aber meist nur bis an den Rand des 16-Meterraums tat und nicht im 16er, ist leicht erklärt: Immer war ein brasilianisches Bein als Hindernis da. So wie Brasilien in der Offensive Spielzüge baute, deren Selbstverständlichkeit jeden potentiellen Gegner in Besorgnis versetzen sollte, so verschoben sie in der Defensive präzise und lückenlos. Der Aufwand dafür ist enorm. Aber im Gegensatz etwa zu den Ballbesitzsüchtigen aus Spanien zieht Brasilien sein Spiel schnell auf, bekommt eine enorme Dynamik in die Angriffe. Sie kennen keine Angst. Raum. Geschwindigkeit. Idee. Alles da. In jeder Richtung. Und bei heutigem Stand, sagen wir einfach: Das ist der Weltmeister. Wahrscheinlich. In bisher keinem Spiel jedenfalls war ein anderes Team zu sehen, dass auch nur annähernd aus der Kraft eines Kollektivs, jene unwiderstehlichen Freiräume baut, in denen dann der individuelle Freude am Ballbesitz gefrönt werden kann. Und das gegen einen motivierten, bestens ein- und aufgestellten Gegner.

Ach so ja, Individualisten, Künstler, Leidende. Damit sind wir bei Neymar. Neymar starb sich dann, als sein Team vorne lag und abzusehen war, dass Mexiko bei aller Spielkunst doch nie ein Tor erzielen würde, leider doch wieder ein bisserl zu heftig ins Viertelfinale. Aber bei den 222 Millionen, die er kostet, kauft man halt auch Drama ein. Dabei übertrieb er es gegen Ende einmal so, dass einem das Zuschauen mehr Schmerzen bereitete, als die Tritte der Mexikaner, die Neymar beklagte. Dieses Mal aber übertrafen dann doch das Gefühl und die Zartheit, mit denen dieser Künstler den Ball bezaubert, seine Schmerz-Theatralik. Brasilien um Neymar funktioniert und er funktioniert in diesem Brasilien. Und also bleibt Neymar das Messi-Schicksal trostloser Lustlosigkeit und Einsamkeit erspart. Und eine Frisur hat Neymar jetzt auch wieder, bei der man sich nicht verzweifelt fragen muss, was denn sein Friseur von Beruf sein könnte.

Und nun wissen wir also, dass ein Viertelfinale Brasilien gegen Belgien heißen wird, was quasi schon jetzt als eine Wiedergutmachung für ein anderes Viertelfinal, das von Russland gegen Kroatien, verstanden werden kann.
Es wird alles gut. Ganz bestimmt.