SN.AT / Kolumne / Blog / Matchplan 27/06

Messi raubt Maradona den Atem

Argentinien darf bleiben, weil Messi seinen Urlaub gegen den Trainerjob tauscht.

Bernhard Flieher

Vor Beginn der zweiten Halbzeit sah man das argentinische Team in den Katakomben des Stadions in St. Petersburg. Zehn Mann standen im Kreis um den einen, der redete. Der eine ist Messi, der auf seine Kollegen einredet. Sonst spricht er mit seinen Füßen. Aber jetzt ist alles anders. Messi schaut nicht aus wie der Spitzbub, dem gleich eine geniale Aktion aus dem Fuß fahren wird, der den Ball streichelt und liebt, weil ihn der Ball auch liebt. Ernst schaut er. Und er schaut aus, als sei er in den vergangenen zwei Wochen dieser WM flott gealtert. Und jetzt redet er mit strenger Miene hinter seinem Bart hervor. Und glaubt man dem Gebrummel und den Gerüchten in Argentinien, dann mag man dieses Bild wohl auch als Beweis verwenden können: Die Mannschaft hat sich selbst übernommen. Sie agiert unter unfreiwilliger Selbstkontrolle. Trainer Jorge Sampaoli soll entmachtet sein. Ein Putsch in einem Land, in dem der Putsch traurig große Geschichte hat - auch im Zusammenhang mit Fußball und dem WM-Titel vor 40 Jahren. Und dass nun gegen Nigeria ein 4-4-2 auf den Platz kommt, mag gleich das nächste Indiz für einen erledigten Machtkampf sein. Sampaoli hatte 3-4-3 spielen lassen und das ging herrlich schief gegen Kroatien.

Nicht nur das System war anders, es wurden auch neue Kräfte gebracht: Rojo, Banega, Di Maria und Higuaín kamen für Salvio, Acuña, Agüero und Meza in die Startelf. Aufbäumen im allerletzten Moment, dachte man. Und dann beherrschen doch nervöses Ballgeschubse und Fehler das Geschehen. Dass Nigeria daraus kein Kapital schlagen konnte, passte zu dieser Partie, die nach einem Tor von Messi (tatsächlich!) nach einer knappen Viertelstunde gelaufen schien.

So wie Messi aber in der Pause auf seine Kollegen einredete, ahnte der kleine Mann das Unglück. Er traf dann tatsächlich nur den Pfosten und Nigeria bekam einen Elfer, weil sich Leon Balogun recht raffiniert in den Körper des ansonsten durch Unsicherheiten und Gemaule auffälligen Mascherano drehte und fallen ließ. 1:1. Nigeria war im Achtelfinale. Argentinien war in diesem Moment auf der Heimreise und Messi und die anderen bewegten sich in manchen Situationen tatsächlich urlaubsreif.

Diego Maradona, Maskottchen, Heilsbringer und Verfluchender gleichzeitig, sah auf der Tribüne komatös aus, ganz so, als müsste er künstlich beatmet werden. Und irgendwie fühlte sich das trotzdem alles richtig an - dieses Drama, diese Nigerianer die plötzlich spielten, und die Argentinier, die fest einer Fall saßen, die sie ihrer eigenen Unfähigkeit und Starrheit verdankten. Panik. Nichts mehr war konstruiert in diesem Spiel. Aber die Angst macht Beine - und wer in Argentinien als Schande auf dem Fußballfeld ausgemacht wird, darf Angst vor zu Hause haben. So passierte, was halt so oft nur den Mächtigen im Fußball passiert, egal wie mittelmäßig sie auch dahinkicken mögen: Flanke. Superschuss. Marcos Rojos rettet alles.

Ob es aber wirklich was hilft beim Weg aus dem Gefängnis der Ideenlosigkeit? Trainer Jorge Sampaoli jedenfalls tanzte nach dem Treffer so, wie nur jene tanzen können, die befreit werden. Afrika hingegen weint, weil es auch im nigerianischen Sturm keine Vollstrecker, sondern nur Spieler gibt. Immerhin wollten sie und das gebar ein bisschen Spannung - das konnte an diesem Tag nicht von allen gesagt werden.

Wie die europäische Ordnung nämlich durch feiges Nichtstun herzustellen (oder aufrechtzuerhalten) ist und wie man gleichzeitig den Fußball kaputt schlendert, demonstrierten in einhelliger Ödnis Dänemark und Frankreich. Nichts als ein 0:0. Man sollte schweigen. Aber dieses Schweigen hieße Zustimmung. Und kein Spiel der bisherigen WM braucht eine kräftige Gegenrede. Die Franzosen verfolgten den Plan, ohne Plan auszukommen. Wohl in dem Wissen, dass die Dänen unfähig sind für einen Plan. Das ist die eine Sache. Die andere Sache ist, dass es nicht unbedingt einen Plan braucht und schon gar kein ausgeklügeltes System, um zumindest den Anschein zu erwecken, man möchte in dem Spiel etwas wollen. Irgendetwas nur.

Selbst als die Dänen durch die Führung der Peruaner gegen Australien (nebenbei: schöner Versprecher der FM4-Nachrichtenmoderatorin, die in den 17-Uhr-News den Zwischenstand mit "Peru One, Austria Zero" ansagte) nichts, aber überhaupt nichts mehr fürchten mussten, als sie sicher in der nächsten Runde waren, fehlte jedes Engagement, den Franzosen vielleicht den ersten Gruppenplatz streitig zu machen. Es hätte ihnen gebührt. Allein weil Trainer Didier Deschamps nach dem Spiel auch noch blöd davon sprach, wie schwer so ein Spiel doch sei und dass es doch ganz okay gewesen sei. Mann, wir sind doch keine Trotteln! Vieles sah aus wie ein Nichtangriffspakt, der beide Europäer weiterbringt. Man muss dabei ja nicht gleich an Gijon denken. Aber man darf. Unsympathisch bis zum letzten Schuss (den es so gut wie nie gab). Das dänische Weiterkommen ist, erst recht in Anbetracht der knappen Niederlagen, die die Peruaner zwei Mal verkraften mussten, ein Witz.

Mit großer Freude also sieht man nach dieser frechen Trostlosigkeit nun dem Achtelfinale entgegen. Da verprügeln die Kroaten bitte sehr und gerechterweise dann die faden Dänen. Und in einem Spiel der Lustlosen stehen sich Frankreich und Argentinien gegenüber. Dann wird zumindest eine jener Mannschaften ausscheiden, die uns beleidigen, weil sie mehr versprechen, als sie auf dem Feld halten wollen. Dass mit dieser Partie zweier vermeintlicher Titelaspiranten am Samstag die K.-o.-Phase beginnt, ist sehr erfreulich. Je früher eines dieser beiden Teams nach Hause fahren muss, desto früher ist der Ärger vergessen, den sie mit ihrer desolaten Spielweise bisher auslösen. Aber vielleicht wird ja in dieser Partie alles wieder gut.