Ein solch Unaufmerksamer bin ich, dass ich eine furchtbare und furchtbar wichtige Sache noch nie in meinem Leben so gesehen habe. Und dankbar muss ich sein, dass ich gestern an dieser Stelle eine Leserin derart erbost habe und sie mir deshalb die Augen öffnen konnte, um nicht zu sagen, dass sie mir das G'wand vom Leib reißen wollte. Es geht jetzt also noch einmal um Anstand und Etikette. Und deshalb schrieb die Dame mit freundlichen Grüßen, wie "einer, der so ins Konzert geht", überhaupt dazu komme, sich zu diesen Themen zu äußern. Es ging um das Bekenntnis, nichts mit dem Getue um Äußerlichkeiten, im Speziellen der passenden Garderobe für Kunstereignisse anfangen zu können. Was die Dame mit "so ins Konzert gehen" meinte, war: Jeans, weißes Hemd, Turnschuhe. Wenn sie das ("leider immer öfter") sehe, fühle sie sich als jemand, der die Kunst liebe, beleidigt, weil "Alltagskleidung" so einem Anlass des Kunstgenusses nicht entspreche.
Ich gebe zu: Bisher war ich dümmlicherweise davon ausgegangen, dass - egal wobei, außer bei einer Modenschau - die Wirkung des Ereignisses wenig mit dem Outfit der Besucher zu tun hat. AC/DC im Smoking? Serge Gainsbourg nackt im Bett? Beethoven-Symphonie in alten Jeans? Who cares?! Nimmt man Musik nicht durch die Ohren auf und manchmal erreicht sie dann sogar das Herz? Ich ahnte nicht, dass da Jeans und T-Shirt ein Problem sein könnten. Falsch gedacht und viel zu unbekümmert. Da sitzen nämlich offensichtlich auch andere drin, und die können sich da gar nicht auf die Musik konzentrieren, weil ich fesche, aber unzulässige Jeans trage. So bleibt man ratlos zurück, aber immerhin mit einer frühen Erinnerung an Anstand und Etikette.
Ich erinnere mich nämlich an meinen Vater. "Wenn ich grüße, grüßt ihr auch", sagte er zu mir und meinem Bruder, wenn wir unterwegs waren. Wir hielten uns daran. Und wir merkten durchaus, dass er nicht jeden grüßte und also wir nicht jeden grüßen mussten. Denn die vornehmste Geste, also die in irgendeinem Vorschriftenbuch vorgeschriebene Geste, zählt nichts, wenn sie im falschen Umfeld passiert. Dann sind das schönste Kleid, der schickste Slimfit-Anzug oder ein Knicks nach einem Tänzchen nichts als hohle Rituale, als Anbiederung. "Es gibt kein richtiges Leben im falschen", fasste Theodor W. Adorno einst zusammen. Ich bin aber nicht sicher, ob ich den alten Adorno so wie ich da sitze - in Jeans und T-Shirt - überhaupt zitieren darf.