Jenseits aller Taktik, aller berechenbarer Fakten, stellt sich früher oder später die Frage nach der Sympathie. Egal, ob bei einer schönen Frau, einem schönen Mann, egal ob bei Cristiano Ronaldo oder bei Aziz Bouhaddoz. Diese Frage des Mögens (ein Nicht-Mögen wird heute ausgeschlossen) jenseits von Zahlen oder Fakten entspringt der Irrationalität, jenem Moment, in dem das Faktische vom Gefühl aufgelöst wird. Und da sitzt man dann am Ende des zweiten WM-Tages, zwei Minuten wird der Tag noch dauern, und Pique geht an der Strafraumgrenze einen Schritt zu viel, zu hart, zu schnell von hinten zu auf Cristiano Ronaldo. Der fällt. Foul. Freistoß.
Und während der Ball den Fuß von Ronaldo verlässt, vergeht beim Hinschauen dieses unangenehme Gefühl, das dieser Mann immer auslöst, weil er offenbar nicht weiß, wohin mit seinem Selbstbewusstsein. Und deshalb müssen wir ihm immer dabei zusehen, wie er, die Worldwide-Marke CR7, sein muskulöses Über-Ego auf dem Spielfeld vor sich her trägt und in die Kamera reckt und streckt. Cristiano Ronaldo macht es einem schwer.
Was nun dieses eine Spiel, dieses vierte Spiel der WM in Russland, das endlich deren eigentlichen Beginn darstellen sollte, betrifft, dieses eine Spiel, dieses unterhaltsame Wunderding an Raffinesse und Hinterhältigkeit, gebaut aus Feinheit und Dynamik gleichermaßen, so muss man sagen: So leicht wie der Ball von Cristiano Ronaldos Fuß seine irre Kurve Richtung spanisches Kreuzeck zieht, so leicht fällt es in diesem Moment, für Cristiano Ronaldo zu sein, für Portugal (obwohl der Schlächter Pepe in diesem Team verteidigt, aber bei Spanien rasiert ja auch Sergio Ramos gegnerische Angreifer, aber dieses Mal fielen beide diesbezüglich nicht auf). Nichts an diesem Gefühl für die einen richtet sich aber gegen Spanien, das glänzend spielte das ganze Spiel über, das zurücklag und aufholte und überholte und wieder eingeholt wurde. Es war leicht in diesem Moment für Cristiano Ronaldo zu sein, weil er nicht für sich traf. Er traf für uns, die wir staunend zuschauen konnten. Freude und Sympathie fliegen ihm zu, weil er mit seinem dritten Tor in diesem Spiel, mit einem Freistoß ohne Gleichen, eine Gleichheit, womöglich gar eine Gerechtigkeit herstellte, also einen Zustand der Ausgeglichenheit, des Unentschiedenes, das zum Spielverlauf passte. Portugal (333 Pässe) gegen Spanien (693 Pässe) - oder vielleicht besser: Portugal mit Spanien spielten also grandios 3:3. Das kann nun taktisch und statistisch zerlegt werden, es werden Fehler gefunden werden im Spiel gegen den Ball und daher in der Konsequenz des Spielaufbaus. Es gibt aber Spiele, in denen das nichts ausmacht, weil sich die Genieblitze und die Fehler ausgleichen auf mitreißendem Niveau.
So fliegt CR7 also eine seltene Art der Sympathie entgegen, die dem marokkanischen Stürmer Aziz Bouhaddouz auch gehört. Bloß gehört sie dem Marokkaner nicht wegen der Freude an der Schönheit und der Freiheit, die er dem Spiel verlieh. Ihm gehört die Sympathie, weil er in der Erinnerung der weinende Mittelpunkt einer Tragödie bleiben wird. Mit seinem Kopf. Mit einem Eigentor. Bei Bouhaddouz wächst die Sympathie aus Mitleid, das nur im Iran, der wegen Bouhaddouz und keineswegs aus eigener Stärke 1:0 gewann, nicht gespürt werden muss. Wie jedem Vollstrecker des Unfassbaren steht einem Eigentorschützen diese Sympathie zu. Auch als er traf, war das Spiel fast zu Ende - und es war ein ersehntes Ende, weil - wie nach dem Elend von Ägypten gegen Uruguay (1:0-Sieg durch südamerikanische Willenskraft und nordafrikanische Nachlässigkeit in der letzten Spielminute) - auch bei Marokko gegen den Iran wieder nichts zu sehen war, das besonders Freude verbreitet hätte. So hat der Iran gewonnen gegen ein zeitweise schön anspielendes Marokko, das die diplomatischen Beziehungen zu eben diesem Iran eingestellt hatte, gegen den Iran, dessen Schicksal von Twitter-Nachrichten des US-Präsidenten bestimmt wird. Und so ist, weil Cristiano Ronaldo zeigte, wie schön er sein kann, wenn er nur Fußball spielt, der Iran erster Tabellenführer der Gruppe B. Damit war nicht zu rechnen. Und diese Irrationalität macht so viel Freude, wie dieser eine Moment, als der Ball vom Fuß Cristiano Ronaldos zu fliegen aufhörte, wie seine Bahn zu Ende ging und im Netz das Unentschieden zappelte.
Ronaldo zielt auf totale Schönheit
Cristiano Ronaldo kann man nicht lieben. Aber er zielt so gut, damit man es tun muss.
