Robbie Williams wird gesungen haben. Wladimir Putin wird gewinkt haben. Gianni Infantino hat gelacht - einfach so und auch ins Fäustchen, weil er und die von ihm regierte Weltmacht Fifa in jedem Fall der Sieger sein werden. Die Kassen sind geöffnet. Die WM beginnt. Und also beginnt die Aufregung, der Ärger, das Staunen und das Weinen und der ausgelassene Jubel. Es beginnen Tage irrationaler Freude und unbändiger Häme. Es sind die Tage, in denen ahnungslose Passanten am Spielfeldrand und Sportreporter alte Mythen und ewige Klischees besingen. Es sind die Tage, an denen die Denker und Aufmerksamen mit Statistiken winken, die dann weniger von Glück oder Pech als von harten Fakten erzählen.
Weder das eine noch das andere wird hier vermieden, wenn an dieser Stelle täglich bis zum Finale der Matchplan erklärt wird. Es sind die Tage, an denen der Ball weit über die sündteuer erbauten Spielfelder geballert wird.
Und es wird jetzt bestimmt keine zwei, drei Spieltage dauern, dann kommen die ersten, die meinen: "Das ist doch nur Fußball, nur ein Sport, 22 Mann, ein Ball und ein paar Tore!" Denen wird gleich zum Anpfiff der alte Bill Shankly in Erinnerung gerufen. Millionenfach zitiert ist, was der Mann, der als Manager des FC Liverpool zu einer Legende geworden war, einst über das angebliche Spiel sagte: "Einige Leute halten Fußball für eine Frage von Leben und Tod. Ich bin von dieser Einstellung sehr enttäuscht. Ich versichere Ihnen, dass es viel viel wichtiger als das ist."
Da hat der Shankly noch gar nicht wissen können, was aus seiner Leidenschaft wird. Fußball ist eine Weltmacht, regiert von einem - auf dem Papier - gemeinnützigen Verein, der sich nicht um Gesetze schert (oder sich ganz einfach seine eigenen macht). Ein Multimilliarden-Unternehmen agiert da, für das alle Regeln der Redlichkeit außer Kraft gesetzt werden.
Zugegeben: Über so eine WM zu schreiben, Tag für Tag, kommt der Frage nach Leben und Tod, nach redlicher, politischer Empörung und hemmungsloser, politisch völlig unkorrekter (also grandioser) Hingabe schon recht nahe. Denn es ist nicht bloß die eine Frage, die sich aufdrängt: Was gibt es Neues oder Aufregendes oder Irres, das sich zu erzählen lohnen könnte?
Tag für Tag in der WM (und dazu schon in einer wochenlangen - lebenslangen? - Vorbereitung) zu stecken, gleicht auch einer harten Selbstbefragung: Wie gehe ich mit tradierten Vorurteilen um? Lassen sich kindliche und jugendliche Prägung einfach so auslöschen mit einem Ergebnis und der dazu passenden akkuraten Statistik? Lügen die Zahlen nicht vielleicht doch?
In der kindlichen Hingabe zum Spiel, in der Idee, einfach nur großartig von Dribblings und Passspiel, von einer geordneten Abwehr und einem flinken, ausgeklügelten Spielaufbau fassungslos gemacht zu werden, sind Zahlen so egal wie das Spiel um den dritten Platz. Apropos hemmungslose Hingabe, Vorurteile und kindliche Prägung: Beste Beispiele dafür gefällig? So schön und raffiniert kann der Matchplan der Deutschen gar nicht sein, dass ich mir mit ihnen schwer tue (vielleicht liegt das mittlerweile aber einzig und allein an der Fadesse von Manuel Neuer, dem Inbegriff dessen, wie langweilig Perfektion sein kann). Im Gegensatz dazu aber übersehe ich bei Argentinien gerne jene Löcher in der Taktik, die durch hartes Einsteigen gestopft werden. So schön können Brasilien oder Spanien gar nicht kombinieren, dass ich nicht hingerissen wäre von einem Underdog, der durch bloße Kraft und Willensstärke und womöglich einem falschen Elfmeterpfiff jeder Schönheit des Spiel trotzt. So aufopferungsvoll können Uruguay und Kroatien und Serbien und ein paar afrikanische Mannschaften nicht auftreten, dass ich nicht die (erhoffte) Lässigkeit und revolutionsgestärkte Attitüde von Frankreich mehr verehren würde. Und England ist sowieso immer der Favorit und scheidet einzig und allein und seit immer schon durch irgendeine äußere Ungerechtigkeit aus. Und dann ist Anpfiff. Und alles wird anders sein - im Hirn jedenfalls. Man müsse das "situationselastisch" angehen, sagte einmal ein österreichischer Minister. Für das Hirn beim Betrachten des Matchplans wird das gelten müssen. Für das Herz (und die Stimmung) kann es nichts Dümmeres, nichts, das man mehr verabscheuen müsste, geben, als sich von Urleidenschaften loszusagen, bloß um bei den Gewinnern zu sein.
Vielleicht ist es auf dem Spielfeld keine Frage von Leben und Tod, diesseits der Outline ist es das schon, weil Leben und Tod nichts anders bedeuten, als pure Begeisterung und verstörende Trauer.