Nerven gehören dazu. Auch blanke Nerven, denn die machen das Spiel auf dem Feld und beim Zuschauen aufregend. Auch in der Kommentatorenkabine. Dann ist es aus und der Kommentator im Schweizer Fernsehen sagt: "Die Schweiz gewinnt gegen Brasilien 1:1". Er tut es mit Absicht (wie er leider gleich zugibt), aber er hat ja Recht. Es kann auch bei einem Remis Gewinner geben. Das liegt einerseits daran, dass die Schweizer einen Punkt gegen den Favoriten dieser WM gewonnen haben. Es liegt vor allem aber daran, dass die Schweizer es hart und dreckig angingen gegen spielfreudige, gut organisierte Brasilianer. Und die Schweizer taten, was schon Island so gut mit Lionel Messi machte: Sie degradierten Neymar zum bloß noch vermeintlichen Spielmacher. Dass Brasilien dennoch nicht so hilflos war, wie Argentinien lag daran, dass die Selecao ihr Spiel auch über andere Positionen aufziehen kann.
Brasilien hat also nicht brutal verloren, sondern nur zwei Punkte. Aber Brasilien hat die Gewissheit gewonnen, dass es nicht immer so leicht gehen kann, wie es in den letzten Spielen - unter anderem auch gegen Österreich - gegangen war. Brasilien aber war anzumerken, dass sie gewinnen können, wenn sie einfach so weiterspielen, Nicht alle werden so wie die Schweiz auftreten können. Und wäre es nur dieselbe Gewissheit, die Deutschland aus dem Spiel gegen Mexiko gewinnen konnte! Dann hätten es die Deutschen so leicht wie Brasilien. Aber die Gewissheit aus der Niederlage Deutschlands gegen Mexiko wiegt schwerer: Deutschland kann so nicht weiterspielen, wenn es etwas gewinnen will.
Üblicherweise folgt nach so einer deutschen Niederlage hier zu Lande Häme. Doch die Häme gegen Deutschland, gegen den amtierenden Weltmeister noch dazu, ist nie ein Ratgeber, um solch einem Spiel sein Geheimnis zu entreißen. Es gibt aber einen Satz, der den Weg weist: "Wir haben gespielt wie gegen Saudi Arabien, nur gegen einen besseren Gegner", fasst es Mats Hummels nach der Niederlage des deutschen Teams gegen Mexiko zusammen. Und besser als Saudi Arabien sind alle bei der WM.
Mats Hummels ist ein guter Typ, einer, der sich bemüht, auch im Sieg, und erst recht im Schmerz und in der Enttäuschung, Klartext zu reden. Er tut dies in einer Umgebung, in der Stehsätze zum Repertoire gehören. Hummels, so hätte man das früher gesagt und so kann man es heute auch sagen, ist ein "Typ". Heutzutage aber ist das umso bemerkenswerter, als es zwar geniale Kicker gibt; Typen, die so zauberhaften Fußball spielen, wie es die Manderl auf der Playstation können. Aber sobald sie das Feld verlassen, halten diese Kicker den Mund (oder treffen sich mit autoritär regierenden Präsidenten und haben dazu nichts zu sagen). Wie ein Ausschaltknopf funktioniert bei denen der Schlusspfiff, als gäbe es ein Nichts, das sich nur auflöst, wenn der Ball im Spiel ist. Bloß leere Floskeln, Anpassung, wiedergekäute Allgemeinformeln - ganz so, als hätte man sich das Nichts-Sagen-Interview bei den medial gleichförmig eingeschulten österreichischen Skifahrern abgeschaut.
Nun hat Hummels gesagt, er fühle sich allein da hinten in der deutschen Abwehr. Und tatsächlich stand er oft allein dort mit Jerome Boateng und rund um die beiden wuselten flink zwei, drei Mexikaner. Boateng war während der Übertragung des Matches einmal zu sehen, wie er sich mit dem Finger an den Kopf tippte. Wem er den Vogel zeigte, war nicht zu sehen. Könnte aber gut sein, dass er Richtung Kimmich schaute oder Richtung Özil oder Richtung Müller. Sie hätten es verdient gehabt. Anderseits. Diese Herren sind halt besser, wenn sie den Ball vor sich haben. Hatten sie auch öfters, aber dann konnten sie an diesem Abend auch nichts mit der Kugel anfangen. Hinten verließen sie sich gegen konternde Mexikaner auf die Restverteidigung (und diese Haltung macht bisweilen den Eindruck von Arbeitsverweigerung). Und die Restverteidigung - in Person von Hummels und Boatang - waren dann oft verlassen.
Und Mexiko hatte eben dort, wo die Deutschen in ein raffiniert herbeigeführtes Chaos liefen, nicht nur einen überragenden Plan. Sie hatten eben dort, wo das Chaos den Deutschen den Ball abnahm oder verlieren ließ, auch einen, der diesen Plan ins Laufen brachte.
Mexikos zentrale Figur Hector Herreira schien überall dort zu sein, von wo aus ein Spiel seinen Lauf nehmen muss. Und er spielte, wo andere nur draufgehaut hätten. Egal wie eng es war, spielte er Pässe, eröffnete das Rennen gegen das Tor von Manuel Neuer. Und einmal war dieses Rennen erfolgreich. Das reichte. Mexikanische Geschwindigkeit gebar Risiko und die Gefahr fürs eigene Leben beseitigte Mexiko einerseits durch konsequentes Mann-gegen-Mann-Bedrängen dessen, was sonst die deutsche Kreativabteilung ist: Kroos vor allem, aber auch Özil, Khedira, Müller. Andererseits war auch eine Lustlosigkeit der Deutschen - bei Kroos, Özil, Khedira - hilfreich. Hummels nannte keine Namen. Aber er sagte, dass jetzt hoffentlich alle verstanden haben, dass das - nach dem trostlosen Gekicke gegen Saudi Arabien - schon der zweite Warnschuss war. Man wisse, was falsch sei, sagt er. Und trotzdem passierte es.