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Erfasse die Zeit, dann hast du freitags frei

Der Umgang mit Zeit stellt uns vor unerfüllbare Aufgaben: Wir möchten sie kontrollieren, aber sie rennt uns einfach davon.

Bernhard Flieher

Neulich an der Busstation ärgerte sich einer. Jetzt ist mir der Bus weggefahren, murmelte er. Das ist blöd, wenn man schnell wohin muss. Musste der Mann aber gar nicht. Kein Termin. Kein Stress. Aber da ärgere man sich halt trotzdem, wenn einem der Bus vor der Nase davonfahre, sagte er. Sicher, aber es kann auch ein Glück sein. Zum Beispiel, wenn man zuvor in der Trafik war. Dann kann man noch eine rauchen und schon durchs neu gekaufte Magazin blättern. So las ich kürzlich beim Warten schon zwei Reportagen, weil mir der Bus vor der Nase davongefahren war. Das ist Zeitgewinn und kein Grund für Ärger. Allerdings sah der Mann an der Bushaltestelle nicht aus, als läse er oft. Weil die Zeit angeblich knapp ist, wird ihr also unrecht getan, wenn sie uns - zum Beispiel mit dem Bus - davonfährt. Dabei hat die Zeit keine Geschwindigkeit. Das Tempo ist menschengemacht.

Dass wir die Zeitbestimmer sind, wurde deutlich, als ich neulich im Foyer eines Amtes einen alten Bekannten traf, mit dem ich lange nichts mehr zu tun hatte. In dem Foyer steht so eine Zeiterfassungsmaschine. Im Prinzip ist das ein Überwachungsgerät unter dem Vorwand einer angeblich gerechteren Arbeitszeiteinteilung. Nun lässt sich die Zeit, die jemand anwesend ist, aber unmöglich auf geleistete Arbeit (oder gar Qualität) umrechnen. Ich hab's gesehen! Da steht der Bekannte von früher vor der Erfassungsmaschine mit seiner Zeiterfassungskarte. Vor ihm auf dem Bildschirm läuft die Uhr. Als eine Minute voll ist, erfasst er seine Zeit, "stempelt sich aus", wie er sagt. Da geht's bei uns genau her, sagt er: "Wie der Niki Lauda hab ich ja nichts zu verschenken." Darum hat er die 56 Sekunden abgewartet. Er kam um 17 Uhr, 24 Minuten und vier Sekunden. Dann stand er und wartete, weil nämlich jede angebrochene Minute als ganze gezählt wird. Ich muss so erstaunt gegafft haben, dass er mir's - ohne gefragt zu werden - erklärt hat: Wenn er das jeden Tag mache, summiere sich das. Dann sind das fünf Minuten in der Woche, 20 Minuten im Monat und sechs Stunden im Jahr. Wenn man weiß, dass er am Freitag nur drei Stunden freinehmen muss, damit er den ganzen Tag freihat, sind das grob gerechnet zwei freie Freitage, die er sich so hereinarbeitet. Er sagte tatsächlich "hereinarbeiten". Zu meinem Einwand, dass er mit dem Warten auf die vollen Minuten ja jede Menge Zeit in einem grauslichen, zugigen Foyer verschwende, sagte er, dass er das jetzt nicht verstehe, womit wir am Ende sogar noch eine Gemeinsamkeit hatten.