Kürzlich wurde einmal die Zeit zu knapp. Das kommt ganz selten vor. Da bin ich streng. Mir geht die Zeit nämlich nicht aus. Lieber etwas liegen lassen, lieber etwas versäumen als hudeln, sage ich. Und ich kann den Vorteil dieser Haltung beweisen - eben mit jenem Tag vor ein paar Tagen, als die Zeit dann doch ausging. Freilich waren unberechenbare äußere Einflüsse schuld. Kurz waren sie, aber lange genug, um die Macht zu übernehmen. Ein überraschender Anruf mit der dringenden Bitte um Beistand und Hilfe zum Beispiel. Und dann zwei beim Frühstückwegräumen blöd umgestoßene Gläser, beide halb voll, also Scherben und Orangensaft vom Boden beseitigen. Da verlief sich der übliche Ablauf zur uneingeplanten Problemerledigung. Und weil Zeitknappheit die Schwester der Schlampigkeit und der Bruder des (wenn auch unabsichtlichen) Vergessens ist, wurde abends geschimpft. Na heute war aber Festbeleuchtung?! Vergessen, das Licht zu löschen! Das Licht im Wohnzimmer brannte den ganzen Tag. Das Licht im Bad auch. In der Küche leuchtete das rote Lichterl, mit dem die Espressomaschine anzeigt, dass der Druck stimmt, dass sie also jederzeit einsatzbereit ist. Bloß brauchte die keiner, weil ja kein Mensch daheim war. Den ganzen Tag niemand da, der Licht oder Kaffee hätte brauchen können. Ich wollte gerade zerknirscht Reue beteuern und Gründe, also Ausreden suchen.
Doch mir fiel der Tag ein, an dem Lolinger, sie war sieben oder acht Jahre alt, die Playlist im MacBook auf Stopp stellen sollte, bevor wir gingen. Wir waren dann den ganzen Tag in den Bergen unterwegs. Bei der Heimfahrt kroch die heimelige Düsternis eines späten Herbstnachmittags übers Land. Nächste Station: Küche; Tee, Kaffee und Keks. Beim Wohnungstüraufsperren dringt Musik aus dem Schreibzimmer. Fast hätte ich geschimpft. Wieso hast du nicht .. . . Warum tust du nicht, was man dir . . . Solche Sachen halt, verbunden mit einem Vortrag über Energieverschwendung und andere pädagogisch angeblich wertvolle Hinweise. Aber es singt Joe Henry: "This time I'm not coming down, trampoline". Und es flirrt eine helle Gitarre durch den Abend und gleich darauf beginnt Johnny Cash vom Schmerz und vom "empire of dirt" zu singen. Und ich sage: "Naja, irgendwer wird schon zugehört haben." Und jetzt, drei Jahre später, in der Festbeleuchtung, sagt Lolinger: "Ich glaub', für irgendwen leuchtet so ein Licht immer, auch wenn keiner da ist."