Da steht also Lolinger mit ihren Freundinnen in der Küche. Sie schauen auf die riesige Weltkarte. Die haben wir einmal billig bei Ikea gekauft, weil unser Geld für ein modernes Gemälde vom boomenden Weltkunstmarkt leider dann doch nicht ganz reichte. Und die Kids stehen da und spielen erstaunlicherweise einen Geografietest: Wo ist was? Da ist Namibia, dort der Amazonas, da das Mittelmeer und Belgrad und dort der Ural. Und dann sagt eines der Mädels ohne Vorwarnung: "Wahnsinn, das ist echt alles unsere Welt." Und die anderen nicken schweigend. Und um das nun nicht gleich komplett zur Philosophie zu überhöhen, räume ich ein: Es kann schon sein, dass die Mädels aus Verlegenheit nickten, weil sie sich nicht genau vorstellen konnten, was das sein kann, diese "unsere Welt". Aber der Satz ist natürlich trotzdem ein schöner Gedanke. Früher war das sogar ein tröstlicher Gedanke. Jetzt ist er das nicht mehr. Denn es wird schwerer, diesen Gedanken, diese Art der Weltanschauung, einfach nur zu mögen, ohne gleich ins Grübeln zu stürzen. Denn ist dieser Gedanke nicht fahrlässig romantisch, ja komplett out of fashion? Die Worte "uns" oder "unser" erleben ja schwere Zeiten. "Uns", das sind ja nicht mehr wir im Großen und Ganzen. "Uns" und "wir" - wo diese Worte im aktuellen politischen Dreckschleuder-Diskurs, im Vorurteilswettkampf eingesetzt werden, passiert das nicht mehr mit umarmender Geste. "Uns" dient neuerdings zur Abgrenzung, sprich: zum Ausschluss der anderen. Hier sind wir und wer seid ihr (und vor allem: Was verdammt noch mal glaubt ihr, wer ihr seid)? Die anderen werden ja immer mehr und immer schlimmer. Und während die Welt uns globalisiert daherkommt, werden die Interessennischen immer mehr und immer kleiner und immer unüberschaubarer. Wo es nur noch kleinste gemeinsame Nenner gibt, müssen die unerbittlich verteidigt werden. Da verendet jede Toleranz.
Die Wort "uns " und "wir" und "unser" beschreiben neuerdings immer engere Räume innerhalb immer enger gezogener Grenzen. Ich weiß nun aber, dass es Lolinger und ihre Freundinnen freilich anders meinen, wenn sie da vor der Weltkarte von "unsere Welt" sprechen. Und ich bin in diesem Moment der Überzeugung, ausnahmsweise einmal alles richtig gemacht zu haben. Vielleicht liegt das daran, weil ich zu den Väter gehöre, deren grundsätzliche Haltung unter anderem auf einem Zitat der Popband Pink Floyd basiert. "We don't need no education/We don't need no thought control", sangen die 1979. Das gilt für Kinder sicher nicht ausschließlich, da freilich gelernt wird für Englisch-Check-up oder Matheschularbeit. Aber die Sache mit dem Erziehungsverzicht und der Gedankenfreiheit gilt oft. Erst recht gilt das, weil sich in der Debatte über "uns" und die "anderen" immer öfter eine Haltung ausbreitet, die extreme Erziehung und totale Kontrolle vorsieht (oder zumindest erduldet). Und ich verstehe das auch: Es wird sich ja so extrem viel mehr gefürchtet als früher. Nur sind die daraus gezogenen Konsequenzen falsch. Wenn das Kind nicht einschlafen kann, weil es Monster sieht, baue ich ja keine Mauer ums Bett, damit die Monster nicht hereinkönnen. Ich erkläre, dass es keine Monster gibt. Aber je mehr davon die Rede ist, wie die anderen uns alles wegnehmen, wie wir uns vor anderen schützen können, wie da Kontrolle verwechselt wird mit Sicherheit, desto mehr beginne ich mich auch zu fürchten. Nämlich davor, dass ich die Toleranz der Gesellschaft reichlich überschätzt haben könnte.


