In der österreichischen Tageszeitung "Die Presse" stand zu lesen: "Ich stehe zum Ohrenzieher. Wozu ich wirklich stehe, ist der Ohrenzieher als strengste Sanktion: Da wird M. nach ,1, 2, 3‘ am Ohr gezogen. Nicht fest, aber doch. Nun, nachdem seine Trotzphase, die moderat war, vorbei ist, ist das fast nimmer nötig. Die (seltene) Androhung wirkt heute noch immer." Und weiter: "Totale Gewaltfreiheit in der Erziehung ist ein infantil-romantischer, militant-pazifistischer Irrglaube, wie die Idee der Gewaltfreiheit in der Welt, da ändert auch das gesetzliche Gewaltverbot nichts. Ich habe manch gewaltfrei erzogenes Kind erlebt, die neigen zu Rücksichtslosigkeit und verbreiten oft negative Schwingungen."
Die Führung der "Presse" hat sich für diesen Text entschuldigt - zumindest. Später auch der Autor und es mit Eile bei der Produktion erklärt, dass er in einem Artikel unter der Nennung des Namens seines dreijährigen Kindes und seiner Frau berichtet, wie er das kleine Kind übers Knie legt und so bestraft.
Kein Stress und kein Zeitdruck dieser Welt vermögen es, solche Fehlleistungen zu produzieren, außer man ist persönlich davon überzeugt, dass körperliche Gewalt bei Kindern ein legitimes Erziehungsinstrument ist und/oder dass derartige üble Ansichten einem gewissen Teil der Leserschaft gut gefallen könnten. So nach dem Motto: Dann bedienen wir auch jene, für die die "g'sunde Watschn" noch immer ein gutes Mittel in der Erziehung ist. Eine derartige Anbiederung an eine bestimmte Klientel ist erbärmlich. Welcher Geist herrscht hier, dass einer auch nur glauben kann, dies schreiben zu dürfen? Um deutlich zu werden: In Österreich ist jede Form von Gewaltanwendung gegen Kinder als Erziehungsmittel seit 1989 gesetzlich verboten.
Doch wir erleben derzeit auch bei anderen gesellschaftskritischen Themen, etwa bei der Geschlechterfrage, dass man nur blöd genug und aggressiv genug gegen Schwächere oder Benachteiligte schreiben muss, um Aufmerksamkeit zu erheischen. Denn da werde endlich gesagt, was sich die meisten denken, sich aber angesichts der grassierenden politischen Korrektheit kaum mehr jemand zu sagen traut, heißt es. Weit gefehlt. Die Menschen in diesem Land sind nicht annähernd so reaktionär, so gefühllos und degeneriert, wie einem dies manch selbst ernannte Intellektuelle in ihrer Hilflosigkeit, aber nach Applaus heischend glauben machen wollen.
Denn wenn der fürchterliche Ohrenzieher-Text etwas Gutes hervorgebracht hat, sind es die meisten Reaktionen darauf. In diversen Foren machten die Menschen ihrer Empörung darüber Luft. Dieses breite Bekenntnis für eine gewaltfreie Erziehung war beeindruckend. Denn jede Körperstrafe stellt für ein Kind eine Herabsetzung und eine Verletzung seiner Würde dar. Sie verursacht eine tiefe emotionale Verunsicherung. Etliche Menschen können selbst im Erwachsenenalter kein Vertrauen mehr zu anderen Menschen aufbauen. Und durch eigene Gewalterfahrungen wird gewalttätiges Handeln erlernt - und weitergegeben. Die Wahrscheinlichkeit, selbst gewalttätig zu agieren, steigt erheblich mit dem eigenen Erleben von familiärer Gewalt in der Erziehung.
Ein Redakteur macht sich Sorgen, dass gewaltfrei erzogene Kinder negative Schwingungen verbreiten würden. Unterdessen hat gerade ein 18-Jähriger in Deutschland eine Studentin totgeprügelt, weil sie Zivilcourage gezeigt und andere Mädchen verteidigt hatte. Darüber müssen wir uns Sorgen machen. Dass sogenannte junge Intensivtäter aus purer Lust an der Gewalt andere töten oder sie derart verprügeln, dass sie ein Leben lang unter den Folgen leiden. Wir müssen intensiv darüber reden, warum an den Schulen so viel Gewalt herrscht, warum junge Menschen nicht reden, aber zuschlagen, warum sie zum Lösen von Konflikten keine anderen Werkzeuge zur Verfügung haben als Fäuste.
Gewalt ist ein Problem in unserer Gesellschaft. Laut Agentur der Europäischen Union für Grundrechte wird jede dritte Frau in der EU Opfer von körperlicher oder sexueller Gewalt. Prävention und Aufklärung sowie Hilfsangebote sind Teile der Lösung. Wichtig ist es aber auch, ein Klima der Nulltoleranz aufzubauen. Dazu gehört das Einschreiten, wenn eine Mutter ihr quengelndes Kind beim Einkaufen grob herumreißt. Dazu gehören klare Worte, wenn jemand Gewalt verharmlost oder befürwortet.

