Preisfrage: Von wem stammt dieser Satz? "In einer Zeit der globalen Unsicherheit muss die Sozialdemokratie kompromisslos auf der Seite der Menschen stehen, die aufgrund von steigender Arbeitslosigkeit jeden Tag um ihre Existenz und um ihre Hoffnungen und Träume kämpfen müssen." - Falsch geraten! Der fragliche Satz entstammt nicht der 80-minütigen Rede, die Christian Kern am Samstag beim SPÖ-Parteitag hielt, ehe ihn eine überwältigende Mehrheit der Delegierten zum neuen SPÖ-Bundesparteivorsitzenden wählte.
Der Satz entstammt vielmehr einem Appell, den ein knappes Hundert roter Basisfunktionäre anlässlich des Parteitags an die SPÖ-Führung richtete. Von Mario Abl, Bürgermeister in Trofaiach, bis Jacqueline Wehhofer, Gemeinderätin in Deutsch-Wagram. Die SPÖ möge Politik machen für den unterprivilegierten Bürger und nicht für den Bobo: So lautet, ein wenig zugespitzt, der Appell der Basis an die Spitze.
Dieser Appell dürfte bei Christian Kern nicht ungehört verhallen. Auch er wolle sich, sagte Kern, an den unterprivilegierten Bürger wenden. Eines seiner Ziele sei es, so sagte er in seiner heftig beklatschten Parteitagsrede, jene Wähler zurückzuholen, die eine Multikulti-Gesellschaft nicht so toll fänden, die tagsüber "vielleicht als Paketzusteller" arbeiteten und den Abend vor dem TV-Gerät ausklingen ließen. Und denen die Freiheitlichen sagen: "Ihr seid okay, so, wie ihr seid." Auch die SPÖ müsse diesen Menschen zu verstehen geben, dass sie willkommen seien, sagte Kern.
Dieser Grundsatz kommt einem Politikwandel bei den Sozialdemokraten gleich. Bis vor wenigen Wochen war ja ein Sozialdemokrat gleichsam amtlich verpflichtet, Begeisterung für das Binnen-I und tägliche antifaschistische Glaubensbekenntnisse vor sich herzutragen, Grenzzäune abzulehnen und die ungesteuerte Zuwanderung nach Österreich als kulturelle Bereicherung zu sehen - eine Haltung, die einem von Arbeitslosigkeit bedrohten Kleinverdiener im Gemeindebau möglicherweise nicht ganz so leichtfällt wie einer Wiener Stadträtin aus einem schicken Innenstadtbezirk. Aus dieser Diskrepanz zwischen Parteibasis und -spitze bezieht die SPÖ ihre Wahlniederlagen, aus ihr bezieht die FPÖ ihre Wahlerfolge. Dass der angestrebte Politikwandel den Sozialdemokraten nicht leicht von der Hand gehen wird, wurde beim Parteitag offenkundig. Bei der Wahl in den SPÖ-Vorstand erhielt Hans Peter Doskozil - also jener Minister, der die von Kern verkündete neue Linie am besten verkörpert - mit knapp 83 Prozent das schlechteste Ergebnis.
Was bleibt sonst noch vom Parteitag der SPÖ? Aufmerksame Politikkonsumenten konnten die Rede Christian Kerns auswendig mitsprechen, er gebrauchte dieselben Bilder und Anekdoten wie bei seiner Antrittspressekonferenz, bei seinem Erstauftritt im Nationalrat und bei etlichen Gelegenheiten seither. Dennoch gelang es ihm, Akzente zu setzen. In Anlehnung an das Bild von "Laptop und Lederhose", das vor Jahren die dynamisch-bodenständige Entwicklung Bayerns trefflich beschrieb, könnte man sagen: Kern steht für Smartphone und Sozialismus. Da war viel die Rede von Digitalisierung und Automatisierung und riesigen Produktivitätsfortschritten und neuer Arbeitswelt. Da war aber gleichzeitig die Rede von der Ungleichheit in der Gesellschaft, von der Verunsicherung vieler Menschen, von Lohndumping durch ausländische Arbeitskräfte, von "Abstiegsängsten bis weit in die Mittelschicht hinein". Ganz bewusst verwies Kern auf seine Herkunft aus "kleinen Verhältnissen". Ganz bewusst setzte er rote Markierungen, wenn er postulierte: "Das sozialdemokratische Zeitalter fängt jetzt erst an!" Bemerkenswert, dass dieser in Wirtschaftsbetrieben sozialisierte Parteichef eine tiefere Verankerung in der Ideologie seiner Gesinnungsgemeinschaft zu haben scheint als etliche seiner Vorgänger von Vranitzky bis Faymann.
Was die ÖVP betrifft, beschränkte sich der neue SPÖ-Chef auf milieubedingte Unmutsäußerungen, wie sie zur Folklore eines Parteitags gehören. Und auf milden Tadel. Man befinde sich mit der Volkspartei in einem Boot, sagte der SPÖ-Chef, doch leider schlügen einige Insassen dieses Bootes Löcher in dessen Boden, anstatt sich an der Ruderarbeit zu beteiligen. Die ÖVP wird's verschmerzen. Brisanter ist das flammende Bekenntnis Kerns zu einer gerechteren Verteilung - und höheren Besteuerung - von Vermögen. Die Koalitionspolitik wird mit Christian Kern nicht einfacher werden.
Doch eventuell wird die SPÖ bei den bevorstehenden Wahlen erfolgreicher.


