SN.AT / Kolumne / Notizen im Krieg / Notizen im Krieg

Auf Erholungssuche in der Ukraine

Kann man abschalten in einem Land, das Krieg führt?

Daryna Melashenko
Auch so sieht die Ukraine aus. Friedliche Bilder wie dieses hier sind seit dem Kriegsausbruch am 24. Februar selten zu sehen.
Auch so sieht die Ukraine aus. Friedliche Bilder wie dieses hier sind seit dem Kriegsausbruch am 24. Februar selten zu sehen.

Der Sommer ist vorbei. Der merkwürdigste Sommer in meinem Leben. Auch ein Sommer ganz ohne Urlaub. Wir fanden keine Zeit zum Wandern oder Baden. Selbst der Gedanke war seltsam. Aber jetzt ist Zeit für eine kleine Pause.

Mein Freund stimmt zu, und wir planen eine Reise in die Berge. Die Fahrt ist ganz kurz: Von Lemberg kann man die ukrainischen Karpaten in nur vier Stunden mit dem Auto erreichen.

Unsere Arbeit, unsere Sorgen bleiben in der Großstadt. So wie der letzte Luftalarm: In entfernten Gebieten ist er kaum zu hören. Natürlich gibt es immer noch Handybenachrichtigungen. Nach kurzer Überlegung schalte ich sie aus. Meine Nächsten und Wichtigsten kann ich telefonisch erreichen. Das Lesen der Nachrichten überlasse ich meinem Freund. Im Gegensatz zu mir überfordern sie ihn nicht. Alles andere kann warten.

Der Winter naht, und was die Zukunft bringt, weiß niemand

Wir fahren an mehreren kleinen Städten vorbei. Manchmal halten wir für einen Kaffee oder einen kurzen Spaziergang. Schöne Innenstädte, alte Kirchen und niedliche Cafés. Hiesige Menschen wirken gleichzeitig gelassen und besorgt. Für Dörfer und Kleinstädte sind die rasch steigenden Preise eine große Herausforderung. Der Winter naht, und was die Zukunft bringt, weiß niemand. Aber jetzt ist Altweibersommer, das Wetter ist launisch, aber schön, die Ernte ist noch nicht vorbei. Kinder spielen lachend beim Springbrunnen. Dieses schöne, dieses schreckliche Leben geht weiter.

In den Karpaten sind Steinpilze eine besondere Spezialität. Vor dem Krieg wollte ich immer am liebsten selbst in den Wald gehen und Pilze sammeln. Jetzt machen mir viele Sachen Angst. Nun auch die Pilzsuche. "Auf dem Markt findet man die Pilze schneller und sicherer", sagt mein Freund und lacht.

Also gehen wir auf den Markt. Dort kaufen wir Steinpilze, Schafkäse und gehen weiter zu Ständen, die Kleider anbieten. Kaum sind wir beim ersten Stand, macht uns der plötzliche Sturzregen einen Strich durch die Rechnung. Die Marktbesucher hetzen hin und her. Viele Verkäufer packen hektisch ein.

Der Gedanke, dass diese Frauen hier im Regen ihr letztes familiäres Erinnerungsstück verkaufen müssen, bricht mir das Herz

Jemand ruft mich. Ich drehe mich um. Am Stand ganz am Eingang verkaufen zwei Frauen Kleidung. Man sieht, dass sie Mutter und Tochter sind. Offensichtlich verkaufen sie keine Fabrikswaren, sondern getragene oder selbst gemachte Sachen.

Die ältere Frau ruft mich wieder: "Komm, ich zeige dir etwas!" Von unter dem Stand holt sie ein weißes Wolltuch hervor. Flauschig und fein gestrickt, mit schönem Muster und langen Fransen, muss es wohl die teuerste Sache in ihrem Angebot sein. Ich schaue sie fragend an. "Nimm es! Schau, wie schön es ist, reine Schafwolle, sehr warm!" An manchen Stellen sind die Fransen gelb geworden. "Es ist schon über 40 Jahre alt." Plötzlich steigen ihr die Tränen in die Augen.

Die zweite Frau streichelt beruhigend ihren Arm. Die Verkäuferin entschuldigt sich schluchzend: "Meine Mama … meine Mama strickte es. Sie ist nicht mehr mit uns." Der Gedanke, dass diese Frauen hier im Regen ihr letztes familiäres Erinnerungsstück verkaufen müssen, bricht mir das Herz. Ich frage vorsichtig: "Ist es Ihnen nicht schade?"

Am selben Tag begegnen wir in der Stadt einem Trauerzug

Beide Frauen schütteln energisch den Kopf. "Meine Oma machte ganz viele wunderschöne Tücher. Jetzt wollen wir einige davon verkaufen", erklärt die Tochter. "Zu Hause liegen sie einfach herum", fügt die ältere Frau schon ein bisschen ruhiger hinzu. "Jemand muss sie tragen, sonst werden sie zu Mottenfutter", sagt sie und lächelt ein bisschen.

Ich kaufe das Wolltuch. Ich kaufe auch eine Glasdose voller getrockneter Pilze, zwei Packungen Dörräpfel und Kräutertee. Ich würde ihnen mehr abkaufen, aber sie haben schon alles eingepackt und machen sich auf den Weg.

Es regnet immer stärker. Wir gehen zum Auto. Die ältere Frau ruft uns nach: "Sie müssen es überhängen!" Ich verstehe nicht ganz, was sie meint. "Überhängen! Die Tropfen gleiten ab, es wird nicht nass!"

Am selben Tag begegnen wir in der Stadt einem Trauerzug. Ein Mann ist im Krieg gefallen. Nun wird er in seiner Heimatstadt mit Ehren beerdigt. Er soll 24 Jahre alt gewesen sein.



Daryna Melashenko (26) ist von Bojarka bei Kiew nach Lemberg zu einem Freund geflohen.