Immer mehr Ukrainer entscheiden sich für Ukrainisch. Aus dem Kontext gerissen würde dieser Satz lustig klingen. Traurig ist jedoch, dass es der Krieg war, der diesen Anstoß gab. Es hat lange gedauert, bis wir unsere eigene Sprache sprechen wollen. Können? Oder sogar dürfen?
Ukrainisch und Russisch gehören zu derselben Sprachgruppe und weisen viele Gemeinsamkeiten auf. Sprachwissenschaftlich sind das aber zwei eigenständige Sprachen, ungefähr so weit voneinander entfernt wie Deutsch und Niederländisch.
Die ukrainische Sprache wurde seit Zarenzeiten von Russland verfolgt und verbannt. 1863 verbot der russische Innenminister Pjotr Walujew, Ukrainisch für Schulbücher, Wirtschaft und religiöse Publikationen zu verwenden. 13 Jahre später erschien der Emser Erlass und mit ihm die Zensur für die öffentliche Verwendung der Sprache, abwertend als "kleinrussischer Dialekt" bezeichnet.
Die sowjetische Macht setzte diese Politik mit Repressionen gegen die ukrainische Intelligenz fort. Entweder die Linie der Partei befolgen oder in Gulag-Lagern ums Leben kommen: Das waren die Optionen. So erhielt die Wiedergeburt der ukrainischen Kultur in den 1920er-Jahren den Namen "Erschossene Renaissance". Auch danach, wenn sie nicht direkt tabuisiert wurde, blieb die ukrainische Hochkultur meistens unsichtbar. Ukrainisch galt oft als eine Art Exotik, ein Tribut an die lokale Kultur.
In der unabhängigen Ukraine erlangte Ukrainisch den Status der Amtssprache. Im Privatgebrauch waren die beiden Sprachen scheinbar gleichberechtigt. Nur hörten die ukrainischsprachigen Menschen oft Anspielungen auf ihre dörfliche Herkunft. "Magst du normal sprechen?" Diese Normalitätsvorstellungen teilten auch viele Ausländer. Auch meine deutschen Chefs und Gastprofessoren an der Uni nahmen Russischstunden, um in der Ukraine gut zurechtzukommen.
Die Sprache des Imperiums hatte noch lange Vorrang, obwohl wir zu keinem Imperium mehr gehörten. Die landeseigene Sprache wird immer noch marginalisiert. Heute nennt ein U-Bahn-Angestellter meine Freundin in Kyjiw verrückt, weil sie mit ihm kein Russisch sprechen will. "Wir sind ja in Kyjiw, hier reden viele Menschen Russisch." Dass Ukrainisch auch in seinem Fall Amtssprache ist, scheint ihn wenig zu interessieren.
Die ukrainischen Klassiker verglichen die Sprache gerne mit einer Pflanze. Dieser Vergleich ist mir aus dem Literaturunterricht im Gedächtnis geblieben. Die Sprache wächst und entwickelt sich ständig. Und, wie jede Pflanze, braucht sie Pflege und Raum. Es ist in Ordnung, in jeder Ecke der Ukraine jede Sprache zu sprechen. Aber es darf Ukrainisch nicht überwuchern.
Immer mehr Ukrainer verzichten auf Russisch. Bei kostenlosen Sprachkursen kann man die Sprache erlernen oder verbessern. Sprachblogs machen dem Ukrainischen eigene Vokabel bekannt und erklären die grammatischen Regeln. In vielen Städten entstehen selbst organisierte Lesekreise. Das freut mich sehr. Ich möchte die ukrainische Sprache gedeihen sehen. Nicht der Russophobie, sondern der Ukrainophilie zuliebe.
Daryna Melashenkoist 27 Jahre alt und ist von Bojarka bei Kiew nach Lemberg geflohen.