"Sehr geehrte Gäste unseres Fitnessstudios, die Sicherheitsdienste warnen vor Luftangriff. Bitte beenden Sie Ihr Training und gehen Sie zum nächsten Luftschutzkeller."
Beim ersten Mal, als die Luftsirene mein Training unterbrach, hatte ich große Angst. Mein Fitnessstudio befindet sich in einem großen Einkaufszentrum. Ich dachte sofort an die zerstörte Mall in Krementschuk und lief in absoluter Panik hinaus. Diesmal mache ich ruhig noch ein paar Liegestütze und gehe in den Umkleideraum. Vielleicht werde ich mich sogar duschen. Dann gehe ich in die kalte Luft.
Jeden Tag habe ich viel vor. Arbeit, Sport, kochen. Eltern anrufen, Freunde treffen. Geschichten schreiben, Auto fahren lernen. Neue Haube kaufen, alten Föhn verschenken, Briefe und Pakete verschicken und bekommen. Mein Leben ist bis auf wenige Ausnahmen auf das Notwendigste begrenzt. Früher konnte ich meinen Tag voll mit Plänen packen. Damals hatte ich oft das Gefühl, als ob die Zeit mir durch die Finger rinnen würde. Heute fühlt es sich anders an: Meine Zeit wird gestohlen.
Wegen der Luftangriffe fallen Unterricht und Arbeitstreffen aus. Genauso wie Filmvorführungen, Theateraufführungen und Literaturabende. Kinder verpassen ihren Musik- und Kunstunterricht. Ich muss meinen Tag laufend umplanen, zwischen Ereignissen manövrieren. Auf keine einzige Verabredung kann man sich gut verlassen. Alles ist vage, ungenau, Plan B wie Plan A. Die Luft ist durchstrahlt mit Unsicherheit.
Die verlorenen Stunden wird uns niemand zurückgeben. Auch wenn das verletzte Recht auf Bildung, Kultur, Sport und Freizeit zum Reparationsthema wird, kann man die Zeit nicht rückerstatten. Die Kindheit meines Neffen vergeht so schnell. Wird sein Schulunterricht auch im Bunker stattfinden? Meine Eltern werden nicht jünger. Werden sie ihren wohlverdienten Ruhestand in Angst vor neuen russischen Offensiven verbringen? Meine Freundin und ihr Mann träumen von Kindern. Wie kann man es wagen, ein Baby zu bekommen, in einer Zeit, in der Geburtshäuser beschossen werden?
Wir bewahren unsere Träume für die Zukunft. Heute bleibt uns das ständige Manövrieren. Manchmal ist es das Beste, was wir tun können. Im dunklen Raum mit Taschenlampe lesen. Mit Laptop am Schoß Onlineunterricht für Kinder aus dem nächsten mit Strom und WLAN versorgten Geschäft führen. Im kalten Schlafzimmer mit Eigengewicht trainieren. Kinder mit Spielen beruhigen, denn la vita è bella. Geburtstage im Kellercafé feiern. Und weiterkämpfen, jeder in seiner Position. Uns bleibt immer etwas, was keine Rakete zerstören kann. Die Würde, die Liebe, die Hoffnung. Und die Macht, zu entscheiden, was wir hier und jetzt mit unserem Leben machen.