Ich möchte auf einer Bank im Botanischen Garten in Kyjiw sitzen und meinen Morgenkaffee trinken. Dabei könnte ich "Guten Morgen Österreich" auf Ö1 hören, über meine Arbeit nachdenken und vielleicht sogar ein paar Reime für ein neues Gedicht aus der Frühlingsluft schnappen.
Dann möchte ich aus meinem Büro hören, wie die große Glocke der Wolodymyrkathedrale Mittag ausläutet. Das Innere der Kathedrale gefällt mir nicht besonders gut. Für meinen Geschmack gibt es dort zu viel Gold. Nach meinem Gefühl gehören Gold und Gott nicht wirklich zusammen.
In der Kathedrale gibt es auch viele Mosaiken und Fresken. Die Herkunft ihrer Autoren ist unterschiedlich. Wasnetsow kommt aus einem russischen Dorf, Kotarbinskij aus einem polnischen. Nesterow und Brüder Swedomsky kommen aus Sankt-Petersburg, Kostenko und Pymonenko wurden in Kyjiw geboren. Alle Künstler wurden vom Adrian Prachow geleitet. Sein Geburtsort war Mstyslawl, Belarus.
Ich denke an meinen Urgroßvater, einen Ikonenmaler. Er wurde viele Jahre nach dem Bau der Wolodymyrkathedrale geboren und wohnte in einem kleinen ukrainischen Dorf nahe zu russischen Grenze, sprach Russisch und hasste die Sowjetunion von ganzem Herzen. Das Verbot, ukrainische Chata (traditionelles Dorfhaus) und orthodoxe Ikonen zu malen, ignorierte er.
Sein Leben verdiente er aber vor allem mit Portraits und Landschaften. Dabei hatte er auch eine ganz "normale", ideologisch richtige Arbeit: Blechschilder und Werbeplakate in der Werkstatt erstellen. Laut ihm hätte man die Sowjetunion mit dem Warnungsschild vorsehen sollen: "Draußen halten: Todgefahr".
Heirat und Krieg. Kooperationen und Repressionen. Verwandtschaft und Genozid. Wenn ich auf die Geschichte zurückblicke, sehe ich zwei Existenzperspektiven der russischen und ukrainischen Völker. Es gibt entweder Verschwommenheit oder Antagonismus. Die Nächstenliebe endet dort, wo die Verselbstständigung beginnt. Ganz im Sinne Mussolinis: O con noi o contro di noi. Entweder mit uns oder gegen uns.
In der russischen Propaganda erkenne ich einen schreienden Anspruch auf "das gemeinsam erwirtschaftete Vermögen". Viele Architekturdenkmale in Kyjiw wurden von russischen Architekten entworfen. Der ukrainische Ingenieur Serhij Koroljow hat die Rakete entworfen, in der Jurij Gagarin zum ersten Mal in den Weltraum flog. Die Wolodymyrkathedrale wurde mit Händen des ukrainischen Volkes und mit Geld des damaligen russischen Reiches (zu dem auch die Ukraine gehörte) gebaut. In der Ukraine gibt es reichlich an russischen Spuren. Das stimmt.
Es gibt auch andere Spuren. Viele Lemberger Gebäuden wurden unter Österreich-Ungarn gebaut. Anfang des 20. Jahrhunderts bestand Lemberger Bevölkerung nur zu 15 Prozent aus Ukrainern. Die restlichen 85 Prozent machten Polen und Juden aus. Genau diese Multikulturalität sorgt heute dafür, dass sich viele Nationen in Lemberg zu Hause fühlen. Dasselbe gilt für Tschernowitz, Uschhorod, Odessa und andere Städte. Die Geschichte ist nun ein Hintergrund dafür, was sich in der Gegenwart entwickelt. Nur unserem "großen Bruder" ist um die gemeinsame Geschichte so schade, dass er sie gerne zurückhätte. Auch wenn blutbefleckt und zunichtegemacht.
In Kyjiw erblühen die Magnolienbäume. In der Magnolienallee gibt es auch einen über 80 Jahre alten Magnolienbaum. Er wurde noch vor dem Zweiten Weltkrieg nach Kyjiw aus Deutschland gebracht. Gott sei Dank wird er nicht zum Instrument der politischen Manipulationen.
Daryna Melashenko ist 26 Jahre alt und von Bojarka bei Kiew nach Lemberg geflohen.