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Ich wandle ängstlich durch die Straßen

Ich besorge Medikamente, um sie an eine Freundin in der Zentralukraine zu schicken. Während ich durch Lemberg gehe, erfasst mich plötzlich eine Panik. Ich habe Angst um meine Eltern. Sie sind immer noch in der Nähe von Kyjiw.

Daryna Melashenko

"Die Automatisierung frisst die Dinge, die Kleidung, die Möbel, die Frau und den Schrecken des Krieges", so der sowjetische Schriftsteller Wiktor Schklowski. Genau dieses Zitat fällt mir ein, wenn ich jetzt an meinen Alltag denke.

Ich mag es, jede Nacht in einem gemütlichen und ruhigen Zimmer schlafen zu können. Ich mag es, einfach zu Hause zu sitzen, kleine Routinen zu erledigen, eine Tomatensuppe zu machen. Ohne zu wissen, was sich im Kriegstheater abspielt. Aber ich darf nicht in die Gemütlichkeit eintauchen, zumindest nicht für lange. Ich erlaube es mir nicht, automatisch zu denken und zu leben. Meine Eltern sind immer noch dort, in jenem großen Spannungsfeld um Kyjiw.

Eine Kollegin von mir ist hier in Lemberg in einem Laden tätig, wo sich Flüchtlinge kostenlose Kleidung besorgen können. Das ist mein Plan für den Tag. Ich wohne in einem "Schlafbezirk" weit vom Zentrum und muss ungefähr eine Stunde zu Fuß gehen.

Soll ich vielleicht ein Taxi nehmen? Meine Apps zeigen mir ein paar Varianten, es kostet in etwa drei bis vier Euro pro Fahrt. Es gibt aber auch sogenannte Support-Fahrten für einen Hrywnja. Das ist ein Sonderangebot für Freiwillige, Ärzte und Militär.

Ich entscheide mich für einen Spaziergang durch die Stadt. Außerdem habe ich noch eine andere kleine Aufgabe. Eine Schulkommilitonin hat mich gebeten, bestimmte Medikamente zu kaufen und ihr in die Zentralukraine zu schicken. Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen leiden nicht nur unter dem Kriegsstress, sondern sie können sich ihre tägliche Normalität, in einer Pille verkapselt, nicht mehr leisten. Also begebe ich mich auf die Suche nach Antiepileptika.

Die Stadt lebt in ihrem ganz normalen Rhythmus. Schaufenster in Apotheken sind alles andere als leer, jedoch muss ich mehrere Apotheken besuchen, bis ich zehn der versprochenen Packungen habe. Alle vier Apothekerinnen, mit denen ich mich unterhalte, sprechen sehr leise und wirken erschöpft.

Auf der Post spüre ich einen starken Kontrast. Alles geht sehr schnell, Mitarbeiter bewegen sich und reden mit viel Energie. Ich frage mich, ob ich überhaupt Medikamente senden darf. Trotzdem sage ich dem jungen Mann in der Post direkt, dass es um Antiepileptika geht. Adressiert, gepackt, bezahlt. Fertig.

Im Stadtzentrum kaufe ich mir einen Döner und eine Flasche Wasser. Ich setze mich auf die Bank. Mahlzeit! Ich esse kaum etwas, schaue mich um und sehe plötzlich etwas Bekanntes. Etwas, was ich schon einmal gesehen habe. Und etwas, was mich zu Tode erschreckt.

Es ist ein Hochrelief mit drei schwarzen Vögeln. Dieses schöne, makabre, ukrainischen Helden gewidmete Kunstwerk habe ich in Lemberg vor einem Jahr gesehen, als ich hier im Urlaub gewesen bin. Damals habe ich eine seltsame, schreckliche Vorahnung einer Katastrophe gehabt. Zwei Tage später ist ein enger Freund an Covid-19 gestorben.

Wie von selbst zieht meine Hand das Handy aus der Tasche. Ich muss sofort meine Eltern anrufen. Ein Mal, zwei Mal, drei Mal. Sie gehen nicht dran. Ich rufe meinen Bruder an. Er ist nicht zu Hause. Ich rufe unseren Nachbar an und bitte ihn, zu meinem Haus zu gehen und mir zu sagen, ob die Eltern zu Hause sind. Während ich mit ihm spreche, kippt meine Stimme und ich weine plötzlich.

Ich wandle ängstlich durch die Straßen mit dem Handy in meiner Hand und versuche, mich selbst zu beruhigen. Ich will ruhig, stark und emotionslos sein. Wie ein Fels in der Brandung. Aber es geht nicht. Ich setze mich wieder auf irgendeine Bank auf einer unbekannten Straße und rufe meine Mutter an. Ich sehe mir ihr Bild im Handy an und fühle mich wie ein kleines verlorenes Kind. In meinem Kopf blitzt eine Frage auf: Lebt meine Mama noch?

Die langen Töne unterbrechen sich. Die Verbindung funktioniert. Sie waren beide einfach eine halbe Stunde im Keller. Alles in Ordnung. Zumindest für den Moment.

Daryna Melashenko ist 26 Jahre alt und ist von Bojarka bei Kiew nach Lemberg geflohen.