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Je näher die Abreisezeit rückt, desto ängstlicher werde ich

Die Unzufriedenheit füllt den Zugwaggon und vermischt sich mit vielen anderen Gefühlen: Angst, Müdigkeit, Schuld.

Daryna Melashenko

Ich muss im Dunkeln einpacken. Es kann gefährlich sein, so spät in der Nacht das Licht einzuschalten. Ich finde eine dünne Laufjacke und lege sie auf die Wandlampe. Das funktioniert: Ich kann alles gut sehen, ohne von außen bemerkt zu werden. In einer Stunde beinahe fertig. Der Rest trocknet auf der Batterie aus und wird morgen noch hinzugestopft.

Mein Morgen ist chaotisch. Je näher die Abreisezeit rückt, desto ängstlicher werde ich. Meine Mama will mir eine zusätzliche Geheimtasche an den Mantel aufnähen, sodass ich meinen Pass und eine kleine Menge Geld immer bei mir habe. Es ärgert mich sehr: Ich bin ja kein kleines Kind. Nach einem kurzen Streit verstehe ich: Es geht überhaupt nicht um mich. Es geht um die Lage. Ich denke an die Plot-Twists von Kriegsfilmen, wo einem Reisenden Ausweise und Geld auf dem Weg gestohlen werden, und sage zu.

Hinter dem Spiegel habe ich einen kleinen Vorrat an Bargeld. Ich hole es in das Gästezimmer, um einen Teil mitzunehmen und auch meinen Eltern etwas davon zu geben. Keine Ahnung, ob sie in den nächsten Monaten ihre Rentenauszahlungen rechtzeitig kriegen, wenn überhaupt. Meine Eltern geben mir das Geld zurück, sie glauben, ich brauche es mehr. Hin. Zurück. Ihr bleibt doch hier ohne Arbeit. Du fährst doch dann vielleicht ins Ausland. Dieses Pingpong mit Geldscheinen wiederholt sich mehrmals. Endlich findet sich eine Proportion, mit der alle mehr oder weniger zufrieden sind.

Der Zug nach Lemberg soll um 13 Uhr abfahren. Um 12 steht meine ganze Familie im Hof, und ich verabschiede mich von allen. Nur mein vierjähriger Neffe ist nicht dabei. Allerdings glaubt er nicht einmal, dass ich wegfahren werde. Meine Schwägerin macht ein Foto von uns: ich, meine Eltern und mein Bruder. Sie schickt mir dann die Fotos gleich im Viber. Ich schaue mir die vier ähnlichen Gesichter an. Meine Eltern sind ruhig, Mama lächelt sogar ein bisschen. Mein älterer Bruder, der immer neutral und ausgewogen ist, weint. Sein Gesicht ist wie verzerrt. Das sehe ich zum ersten Mal in meinem Leben. Auf dem Weg zum Bahnhof schreibe ich ihm noch kurz im Viber: "Ich liebe dich".

Meine Eltern helfen mir, den Koffer zur Plattform zu tragen. Sie ist voll. Wir haben Glück, dass es Züge direkt aus unserer Kleinstadt gibt, sonst wäre das Ganze viel, viel schwieriger. Auf der Plattform weinen wir ein kleines bisschen. Punkt 13 Uhr kommt ein Zug, aber das ist ein "falscher". Es kommen weitere Züge. Güterzüge. Lastzüge mit Militärmaschinerie. Züge mit Soldaten, die uns zuwinken. Ich winke zurück.

Mit jedem weiteren "falschen" Zug werden wir immer ruhiger. Jeder weitere ist eine Chance, noch ein kurzes Weilchen zusammen zu sein. Wir fühlen uns sehr wohl miteinander. Es wird kalt, und wir tanzen ein kleines bisschen, um uns zu wärmen.
Fast anderthalb Stunden später sitze ich im Wagen und versuche, mich von allen Geräuschen, Gerüchen, Worten und Menschen nicht überfordern zu lassen. Gegenüber von mir redet eine alte Frau zu ihrer schwarzen Katze. Die grüngelben Augen der Katze sind weit aufgerissen. Die ganze zwölfstündige Reise trinkt sie nichts, isst nichts und kann nicht einmal einschlafen. Ich und Larissa (so heißt die Frau) halten die Katzenbox abwechselnd auf dem Schoß. Schon wieder ein Pingpong.

Larissa kommt aus Luhansk. 2014 musste sie ihr Leben dort verlassen und fliehen. Jetzt muss sie das Ganze von Anfang an erleben. Diese Form der "ewigen Wiederkunft" gefällt mir überhaupt nicht.

Es gibt keine frische Luft. Eine Frau schreit böse und verzweifelt alle Fahrgäste an, die im Sitzen fahren. Viele Menschen müssen im Stehen fahren, da sie erst am Hauptbahnhof in Kyjiw einsteigen konnten. Ihre Unzufriedenheit füllt den Wagen und vermischt sich mit vielen anderen Gefühlen: Angst, Müdigkeit, Schuld. Ein Mann, der mit uns zusammensitzt, erzählt stotternd, dass er seinen Hund der Willkür des Schicksals überlassen hat. Er schluckt leise die Tränen und senkt den Kopf. Manchmal zuckt er ein wenig. Alle anderen Männer hier haben entweder eine Behinderung oder sie sind alt alt.

Es ist kein normaler Intercity-Zug, sondern ein ziemlich alter Vorortszug. Das heißt, es gibt nicht in jedem Wagen ein WC. Vom Händewaschen ist die Rede auch gar nicht: In solchen Zügen funktioniert die Wasserleitung sehr, sehr selten. Nach meinem ersten "Besuch" trinke ich innerhalb der restlichen acht Stunden so gut wie kein Wasser. Ich bin angeekelt. Genauso wie die schwarze Katze kann ich überhaupt nicht einschlafen.

Daryna Melashenko ist 26 Jahre alt und stammt aus Bojarka, 15 Kilometer von Kiew entfernt.