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Kriegstrauma im Hinterland

Wie viele andere Ukrainer bin ich durch den Krieg traumatisiert. Das ist eine schmerzliche Wunde. Eines Tages heile ich sie.

Daryna Melashenko

Kalter Schauder, Bauchschmerzen, schlechte Konzentration. Fressattacken, Doomscrolling, zwanghafter Wunsch, allein zu sein. Eine inkomplette Liste der Symptome, die ich wellenweise jedes Mal erlebe, wenn ein Raketenangriff Leben und Häuser zerstört. In der Psychotherapie heißt das Retraumatisierung. Ich nenne das "Mein Verstand ist auf Urlaub gegangen".

Es ist unmöglich, die Tragödien zu ignorieren. Selbst wenn man keine Nachrichten liest, schleichen die Informationen trotzdem durch Alltagsgespräche und zufällige Chats hinein. Mit der Nachricht über die Opferzahl kommt das allumschlingende Gefühl der Ohnmacht. Warum passiert das? Ist die Welt verrückt geworden oder war sie immer so? Wie viele müssen noch sterben? Lauter kindische Fragen und keine Antworten. Ich rutsche langsam in die Albtraumwelt hinab.

Ein Kloß im Hals und ein flaues Gefühl im Bauch. Mir ist kalt, ich zittere fast in einem gut geheizten Raum. Ich vergesse, was ich gerade vorhatte, und kann nicht mehr weitermachen. Alles kommt mir feindlich und gefährlich vor. Ich reibe meine Hände aneinander, atme langsam ein und aus. Ich will wieder meine Kontrolle und meinen guten Verstand haben. Aber jetzt regieren mein erschrockenes Herz und alle Gefühle, die in mir gleichzeitig entstehen. Empörung und Verzweiflung. Blinde Wut und Todesangst. Ich fühle so viel auf einmal, dass ich nichts mehr fühlen möchte. Es gibt viele Ablenkungsmethoden: Junkfood essen und Reels am Handy laufen lassen. Arbeiten oder Sport treiben. Manche von ihnen sind konstruktiv, die meisten sind pure Zeitverschwendung. Aber keine lindert den emotionalen Schmerz, egal wie sehr ich ihn ignoriere.

Seltsamerweise sind es die kleinen Sachen, die helfen. Eine kleine Spende an die Armee schicken. Mit Mama telefonieren. Spazieren gehen und Vögel zwitschern hören. Die ersten Blumen sehen und Sonnenwärme genießen. Diese Kleinigkeiten füllen tropfenweise eine große Leere in mir. Wie viele andere Ukrainer bin ich durch den Krieg traumatisiert. Das ist eine schmerzliche Wunde. Eines Tages heile ich sie.



Daryna Melashenkoist 27 Jahre alt und ist von Bojarka bei Kiew nach Lemberg geflohen.