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Mein Onkel mit der alten Flinte

Ich telefoniere mit meinem Onkel, der in der Region Sumy im Nordosten der Ukraine lebt. Es geht ihm nicht gut, das höre ich durch die Gemeinplätze durch, die er von sich gibt. Ich hoffe, dass ich ihn bald wiedersehen kann.

Daryna Melashenko

Mich weckt der Klingelton meines Handys. Es ist meine Mama. Sie ist sehr aufgeregt und bittet mich, meinen Onkel anzurufen. Er wohnt in einem kleinen Dorf in der Region Sumy im Nordosten der Ukraine, 30 Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Das ist der Geburtsort meiner Mutter. Dort hat sie noch ein paar Freunde und Verwandte.

Vor dem Krieg rief ich ihn öfters an. Wir haben eine herzliche Beziehung und können uns gut verständigen. Als wir ihn das letzte Mal besuchten, schenkte ich ihm ein Buch des modernen ukrainischen Schriftstellers Artem Tschech. Dieses Buch ist ein autobiografischer Roman über die Freundschaft zwischen einem Buben und einem exzentrischen Veteranen des Afghanistan-Kriegs. Der Veteran, der höchstwahrscheinlich auch an einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet, gibt kleine Stücke an Lebensweisheit an seinen jungen Freund weiter. Ab und zu ertränkt er seine Kriegserinnerungen in Wodka und entwickelt verrückte Verschwörungstheorien. Mein Onkel fand das Buch sehr gut. Er sagte: "Meine Güte, in dem Buch stimmt alles. So ist das Leben."

Onkel Sascha ist seit vielen Jahren krank. Seine Arteriosklerose hat nichts mit Kriegen zu tun, sondern vielmehr mit dem Rauchen. Da er aber in letzter Zeit große Schmerzen hatte, gab man die Hoffnung auf, ihm von den Zigaretten abzuraten. Das Nikotin soll trotz aller Schädlichkeit auch einen winzigen schmerzlindernden Effekt haben. Die schlechte Gewohnheit, die sein Leben ruinierte, hält ihn ironischerweise psychisch gesund.

Ich rufe ihn an. Er klingt müde und spricht ungern mit mir. Auf meine Fragen antwortet er nur: "Alles in Ordnung." Ich frage ihn, ob er noch Medikamente hat. Er murmelt ein bisschen und sagt dann: "Es gibt keine mehr." Auf meinen drängenden Vorschlag, ihm Schmerzmittel und sonstige Medikamente zu schicken, verspricht er, zu überlegen, was er braucht.

In Sumy und Umgebung ist es im Gegensatz zu Kyjiw viel gefährlicher. Die Lage soll sehr angespannt sein und ich weiß ganz ehrlich nicht, ob die Post dort noch arbeitet. Das sage ich Onkel Sascha nicht. Und es gibt auch etwas, das er mir nicht sagen will. Es scheint durch seine Gemeinplätze durch.

Von seinem Großvater erbte Onkel Sascha eine Flinte, mit der er früher auf die Jagd ging. Aus unserem Familienerbe hatte er viele Sachen verkauft, unter anderem Landschaftsgemälde und Ikonen. Denn unsere Vorfahren waren Ikonenmaler. Die Flinte blieb aber unberührt. Auch wenn er Geld für Operationen brauchte, wollte er die alte Waffe nicht verkaufen.

Sie steht bei ihm in seinem kleinen Zimmer im alten Dorfhaus. An der Wand hängt ein Ölgemälde, eine Steppenlandschaft mit einer Wolfgestalt. Im Bücherschrank stehen mein Buch und das Foto des Großvaters. In diesem Zimmer schaut Onkel Sascha sich auf einem kleinen Fernseher die Kriegsnachrichten an. Ich sage mir, dass sich seine Kinder gut um ihn kümmern, und glaube mir selbst nicht.

Onkel Sascha ist ein dramatischer, exzentrischer Mensch. Eben deswegen, glaube ich, verständigen wir uns so gut. Gegen diesen Krieg kann er überhaupt nichts unternehmen. Die Krankheit hindert ihn daran, mit seiner Flinte an die Front oder in die Territorialverteidigung zu gehen. Er ist einer der vielen alten und kranken Menschen, die sich unter den heutigen Umständen absolut machtlos fühlen.

In der Nähe seines Dorfs gibt es ein Erholungsheim im Wald am Fluss Psjol, wo er jahrelang als Wächter arbeitete. Vor Jahrzehnten, als ich noch nicht einmal das Schulalter erreicht hatte, waren dieser Wald und dieses Heim für unsere Familie ein beliebter Urlaubsort. Auch diesen Ort hat der Krieg mit einem Raketenschlag gekennzeichnet. Ich hoffe, dass er und mein Onkel diesen Krieg überleben.

Daryna Melashenko ist 26 Jahre alt und ist von Bojarka bei Kiew nach Lemberg zu einem Freund geflohen.