Die Explosionen wecken mich nicht mehr auf. Ich frage mich verwundert, wie schnell das geht. Am nächsten Tag fühle ich die Vibrationen an meinem ganzen Körper. Es ist eine Stressschaukel.
Mein Neffe läuft zu mir, springt in mein Bett hinein und schreit fröhlich: "Es ist Zeit aufzustehen!" Er ist in der letzten Zeit hyperaktiv. Er verrät mir (privatissimo!), dass er große Angst vor dem Krieg hat. Das sieht man ihm gar nicht an. Er kann sich einfach nicht sehr gut konzentrieren. Er will sich die ganze Zeit ablenken und mit mir spielen. Ich spiele mit ihm Verstecken, aber nur kurz. Dabei denke ich an den Film "Die Chroniken von Narnia". In diesem Film beginnt die Handlung auch in Kriegszeiten. Vier Kinder sind zusammen in ein Dorf gefahren und spielen in einem alten Haus Verstecken. Ein kleines Mädchen findet dabei das zauberhafte Land Narnia in einem altmodischen Kleiderschrank.
Wenn es nur ein Narnia gäbe, wo ich meinen Neffen für einige Zeit hinschicken könnte. Er hält alles gut aus: die Gespräche über die russische Besatzung, die schwankende Stimmung seiner Mutter, die neuen Regeln. Man darf nicht im Garten spielen und nicht laut sein. Man darf nicht aus dem Haus, auch nicht mit einem Erwachsenen zusammen. Man darf nichts, was einen kleinen Buben mit fünf Jahren interessiert.
Meine Mutter und ich nehmen Kontakt zu unserer Territorialverteidigung auf. Es gibt Arbeit für uns: Man kann eine Überwachungsgruppe koordinieren und dokumentieren, wie die Lage in einem bestimmten Viertel ist. Wir bringen einige Sachen mit für unsere Jungs: Kleidung, Matten, Medikamente. Es tut mir ein bisschen leid um meine rosa Yogamatte, aber ich sage mir, dass sie jetzt von denen gebraucht wird, die mich beschützen. Ich weiß nicht, wie ich die Medikamente verpacken soll, und packe sie in eine schöne blaue Geschenkbox. Die Schachtel mit einer Menge Süßigkeiten hat mir vor einem Monat ein Freund aus Lemberg geschickt. Ich habe meine Portion Liebe in dieser Box erhalten und will sie jetzt weitergeben.
Die Männer sind sehr ruhig und strahlen Sicherheit aus. Ich sage "Ehre der Ukraine" und man antwortet mir: "Ehre den Helden". Früher galten diese Worte als traditionelle Begrüßungen ukrainischer Nationalisten. Seit einigen Jahren ist der Zuruf der offizielle militärische Gruß der ukrainischen Streitkräfte. Als ich in Salzburg lebte, brachte ich ihn meinen spanischen Freunden bei. Diese Worte bedeuten für mich nur, dass ich mein Land für ehrenhaft halte, dass ich es respektiere und liebe. Diese einfache, ganz menschliche Liebe zum eigenen Land wird heute von manchen als ein großes Problem gesehen.
Wir kommen nach Hause und kleben viel Klebeband auf alle Fenster, sodass die gefährlichen Glassplitter nicht im Fall wild durcheinander in die Wohnung fliegen, sondern als ganzes Stück ausfallen. Im Kinderzimmer befestigen wir sogar eine Schaumstoffplatte am kleinen Fensterchen. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass dieser Teil des Hauses beschädigt wird. Nur für den Fall ...
Mein Handy zeigt mir die Nachrichten aus meiner Übersetzergruppe auf Telegram. Ich fühle mich ein bisschen nutzlos und ärgere mich über die Menschen, die heute schon so viel gemacht haben. Durch diesen Ärger erkenne ich, dass ich sehr, sehr müde bin. Komplett erledigt.
Ich bereite mich aufs Schlafengehen vor. Im Dunkeln, weil bei uns Lichtausmachen als Sicherheitsmaßnahme empfohlen wird. Das Einschlafen fällt mir schwer. In der Ferne donnert etwas, aber ich kann nicht mehr ausmachen, ob das jetzt der Krieg ist - oder vielleicht nur das Wetter?