Ich habe drei Wecker auf meinem Handy. Jeweils 9.00, 14.00 und 19.00 Uhr. Das sind die Zeiten, zu denen ich meine Familie anrufe. Ich spreche mit meiner Mama, und dadurch wird sie ruhiger und stabiler. Ich spreche mit meinem Vater und plage ihn mit möglichen Evakuierungsplänen. Ich spreche mit meinem kleinen Neffen und sage ihm, dass ich ihn sehr, sehr liebe und dass wir bald wieder Verstecken spielen dürfen. So kämpfe ich mit.
Ich beruhige in einem langen Telefongespräch eine Freundin, die von Schuldgefühlen gequält wird. Sie sagt: "Ich bin so müde, ich kann nichts tun, ich bin wie paralysiert, und ich bin nicht einmal an der Front!" Ich sage ihr: "Stell dir vor, du seiest ein Soldat, der an einer speziellen Operation zusammen mit anderen Soldaten teilnehmen soll. Aber etwas hat dich getroffen - eine plötzliche Panik, ein Raketensplitter, sonst was. Wenn du jetzt zusammen mit deinem Team weiter an der Operation teilnimmst, dann steigen die Chancen, dass etwas schiefgeht. Wenn man krank ist und sich nicht stabil fühlt, muss man nicht an der Front sein. Man DARF nicht mehr an der Front sein und darf erst dann zurückkehren, wenn man wieder bereit ist." Sonja, meine Schulfreundin, schweigt eine Weile und sagt: "Danke, deine Worte haben mir geholfen." So kämpfe ich mit.
Ich führe Diskussionen über russische und ukrainische Ortsbenennungen, spreche mit meinen europäischen Freunden über den Krieg, suche und finde Unterkunft in Graz für die Eltern meiner besten Freundin. Ich bitte meine gläubige Freundin aus Litauen, für unsere Zukunft zu beten, weil ich an ihre Ehrlichkeit mehr glaube als an Jesus oder Buddha. So kämpfe ich mit.
Ich passe auf mich auf, nehme mir Zeit für Angst und Panik, nehme mir Zeit für ein kurzes Gespräch mit meiner Psychotherapeutin. Ich richte meine kalte Wut dem Feind gegenüber auf die Arbeit. Ich übersetze Texte zum Thema "Psychologische Unterstützung von Kindern und Erwachsenen in der Krise". So kämpfe ich mit.
Nachts weckt mich wieder eine heulende Sirene. Alle Keller sind viel zu weit, und ich bin mir fast sicher, dass mir nichts passiert. Ich spüre, wie der Pegel des Stresshormons Kortisol in meinem Körper steigt. Er zittert. Meine Hände sind heiß und nass. Nach ein paar langen Atemzügen nehme ich meine Ohrstöpsel, lege sie mir in die Ohren und schlafe ein. So kämpfe ich mit.
Ich weiß, das ist nicht viel. Das ist nicht genug. Aber heute kann ich nur das. Ich akzeptiere vorübergehend meine Schwäche, um dann morgen wieder an der einen oder anderen Front sein zu können. So kämpfe ich mit.
Daryna Melashenko,26 Jahre, ist von Bojarka bei Kiew nach Lemberg geflohen.

