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Veränderte Normalitätsvorstellungen

Sachen wie Sirenen und Explosionen schockieren mich nicht mehr, auch wenn sie mir Angst machen.

Daryna Melashenko

Am Samstag durfte ich ein Team österreichischer Journalisten in der Stadt bei Dreharbeiten als Dolmetscherin begleiten. Durch unsere Gespräche spürte ich einen starken Kontrast in Wahrnehmungen. Wenn man sein friedliches Leben verlässt und sich nach einer riskanten Reise mitten im Kriegsgebiet befindet, sieht alles ganz anders aus. Viele Antworten der interviewten Menschen scheinen mir uninteressant zu sein. "Ist das nicht selbstverständlich?", denke ich und verstehe plötzlich, wie sehr ich mich geändert habe.

Ich denke an meine erste Sirene, an meine erste Explosion, an meine erste Stunde im Luftschutzkeller. Meine Normalitätsvorstellungen haben nun ganz andere Kriterien. Alle diese Sachen, auch wenn sie mir Angst machen, schockieren mich nicht mehr. Ein Einreisender erlebt sie aber in all ihrer Seltsamkeit und Schrecklichkeit.

Unter anderem besuchen wir den Friedhof. Außer den ganz alten Gräbern und Gruften gibt es hier neue Gräber. Ich gehe zu einem Grab, wo es noch ganz viele frische Blumen gibt, und schaue mir das Foto und die Lebensdaten an. Der Junge war trotz seines jungen Alters ein Kommandant: Das liest man den Streifen ab, mit denen die Blumensträuße reich verziert sind. Auf zwei anderen Streifen steht: "Von deiner Frau" und "Helden sterben nicht".

Neben dem Grabstein liegt ein Bonbon. Das ist eine alte ukrainische Tradition, eine kleine Erinnerungsmahlzeit neben den Gräbern von verstorbenen Verwandten zu machen. Es geht meistens nur um Bonbons und Kekse. Zu Ostern bringt man auch Paska (ukrainisches Ostergebäck) und Pysankas (mit symbolischen Mustern bemalte oder einfach rot gefärbte Eier). Ein wenig Essen hinterlässt man am Grabstein für die Verstorbenen. Sie sind immer noch ein Teil der Familie, sie dürfen mitessen, ihrer wird gedacht.

Nach den Dreharbeiten gehe ich durch den Park. Mein Ziel ist das Büro meines Freundes, aber ich habe keine Eile. Ich verlaufe mich ein bisschen, aber das macht nichts. Viele Bäume stehen schon in Blüte. Ich bastle ein winziges Sträußchen aus weißen Blüten.

Auf dem Weg treffe ich zwei Männer in Militäruniform. Beide tragen Gewehr. Ich sage "Guten Tag!". Sie grüßen zurück. Ich frage, wie es ihnen geht. "Nicht besonders gut." Wie uns allen, denke ich. Es ist aber auch keine spannende Aufgabe, stundenlang Wache zu schieben. Plötzlich fragt mich der eine: "Was sind das für Blumen?" "Das weiß ich nicht so genau. Ich glaube, Apfelblüten." Er schaut das kleine Sträußchen mit Kennerauge an und sagt: "Das müssen Pflaumenblüten sein." Ich schlage ihm vor, dran zu riechen. Er winkt ab. Ich sage: "Da ist kein Nowitschok drin." Wir lachen zusammen. Die Territorialverteidiger erklären mir den Weg. Nach wenigen Minuten bin ich da. Mein Freund und ich fahren nach Hause.

Die Kriegsspannung steigt mittlerweile wieder. Samstagnacht gab es vier Raketeneinschläge, die dank unserer Luftabwehrkräfte in der Luft zerstört worden waren. Unsere Pläne und Zukunftsperspektiven dürfen im Prinzip nicht weiter als ein paar Stunden gehen.

Nächste Woche wird orthodoxes Ostern gefeiert. Mein Freund meint, wir könnten versuchen, mit dem Auto nach Kyjiw fürs Wochenende zu fahren. Das wäre riskant. Aber das Leben in der Ukraine ist jetzt überall gefährlich. Dieses Risiko möchte ich eingehen.

Daryna Melashenko ist 26 Jahre alt und ist von Bojarka bei Kiew nach Lemberg geflohen.