Genauso wie ich ist mein Lemberger Freund arbeitssüchtig. An Wochentagen arbeitet er oft bis spät in die Nacht. Sogar am Wochenende fährt er ein paar Mal ins Büro. Auch am Samstag wollte er unbedingt noch einige Unterlagen in Ordnung bringen.
Bei mir ging die Arbeit Samstagnachmittag überhaupt nicht. Nachdem ich Meldungen über Raketeneinschläge in meiner Kleinstadt gehört hatte, konnte ich mich kaum auf etwas konzentrieren. Doch andere Sachen gingen: kochen, Musik hören, Übungen machen.
Vor dem Krieg hatte ich einen Tanzkurs besucht. Die Lehrerin setzte ihn online fort, also entschied ich, eine kleine Tanzstunde mithilfe ihrer Videos zu machen.
Mein Körper reagiert sehr schnell und deutlich auf Stress. Die Bein- und Bauchmuskeln werden verspannt, mein Gesicht wird sehr streng und ernst, ich nehme Haltung an. Der US-amerikanische Psychologe Walter Cannon würde das wohl als eine Kampf-oder-Flucht-Reaktion bezeichnen. Diese Spannung bleibt dann auch lange nach dem Stress. Ich fühle mich, als ob ich eine Ritterrüstung tragen würde.
Als ob ich eine Ritterrüstung tragen würde
Manchmal brauche ich sie. Gerade im vergangenen Monat konnte ich manches dank dieser Schutzhaltung durchhalten. Es nimmt aber viel Zeit in Anspruch, die "Rüstung" wieder abzulegen und mich zu entspannen.
Es war mir halbwegs gelungen. Aufwärmen, Kniebeugen, ein bisschen Dehnen. Eine angenehme Wärme ging durch meinen Rücken und meine Glieder. Als ich auf der ausgeborgten Yogamatte saß und versuchte, meine Zehenspitzen zu berühren, hörte ich durch die Trainingsmusik ein anderes Geräusch durchklingen. Da knallt der Nachbar wieder mit der Tür, seufzte ich und setzte fort. Ein paar Minuten später wiederholte sich das Geräusch. Ich stand auf und ging zum Fenster. Am Horizont wallte eine Riesenwolke von schwarzem Rauch auf. Es donnerte zum dritten Mal. Drei Raketeneinschläge. Ziemlich weit von mir, aber nicht weit vom Büro meines Freundes. Ich rief ihn an.
Er hatte die Einschläge überhaupt nicht gehört und versprach, dass er auf sich aufpassen würde. Meine Muskeln wurden wieder ganz straff. Erst als mein Freund wieder zu Hause war, konnte ich mich wieder ein bisschen entspannen.
Auf dem Video sehen die Raketen ganz anders aus
Auf dem Video, das ich mir am Sonntagnachmittag ansehe, sieht die Rakete gar nicht bedrohlich aus. Das ist eine kleine schwarze Linie, die durch den Himmel fliegt. Auf einem anderen Video sehe ich zwei Schläge und die kurz darauf folgenden Explosionen ganz deutlich. Sie blühen hinter einem großen Gebäude auf wie riesige Mohnblumen, vom schwarzen Rauch umrahmt.
Übrigens wird jetzt in der Ukraine streng davon abgeraten, Raketen und Explosionen zu fotografieren oder zu filmen. Solche Materialien können den Russen helfen, ihre Ziele anzuvisieren. Am Samstag nahm die Polizei in Lemberg sogar zwei Verdächtige fest, die die Flugbahn und den Einschlag der Rakete gefilmt haben sollen. Auf dem Handy eines der Festgenommenen wurden Videos und Fotos von ukrainischen Truppenbewegungen gefunden. Ein Kommentar zu dieser Nachricht: "In Kriegszeiten werden Verräter erschossen."
Eine Fantasiewelt in Film und Nachrichten
In letzter Zeit schauen wir vermehrt deutsche Filme. Am Sonntag habe ich "Good Bye, Lenin!" ausgewählt. Dieser Film dreht sich um eine erfundene und zum Leben erweckte Fantasiewelt einer idealen DDR, nachdem die Mauer schon gefallen war. Die vorgetäuschten Nachrichten, die der Hauptdarsteller für seine Mutter aufnimmt, wirken weder gefährlich noch falsch. Sondern eher lustig.
Ganz anders wirken auf mich die Nachrichten des russischen Internetmediums Ria.ru:
"Europa wird Russland beim Bau einer neuen Gasleitung nach China unterstützen."
"Die ukrainische Luftabwehr wurde vernichtet, an allen Fronten ergeben sich [ukrainische] Soldaten, um ihr Leben zu retten."
"Nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums richten sich die [russischen] Streitkräfte ausschließlich gegen militärische Infrastruktur und ukrainische Truppen."
"Chinesen sind empört über Kyjiws Wunsch, sich als 'Kanonenfutter' für die USA zu opfern."
"Briten beschimpfen Selenskyj für den Versuch, den Dritten Weltkrieg zu provozieren."
Bei den letzten zwei Nachrichten findet man schnell heraus, dass mit "Briten" und "Chinesen" ausgewählte Nutzerinnen und Nutzer der Webseiten von "Daily Mail" und der chinesischen Zeitung "Global Times" gemeint sind.
Ich versuche, mir vorzustellen, wie es sich anfühlt, die Welt durch das Prisma dieser Nachrichten zu betrachten. Mit Schrecken und Abscheu schaue ich in diese Welt hinein. Sie ist eindeutig, verständlich, bequem. Hinter ihrer schwarz-weißen Oberfläche sehe ich Kriegsverbrechen und soziale Apathie. Ich hoffe sehr, dass diese Fantasiewelt bald verschwindet.
Daryna Melashenko, 26 Jahre, ist von Bojarka bei Kiew nach Lemberg geflohen.

