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Weit weg von dort, wo der Nabel begraben ist

Ich bin nun in Lemberg angekommen, fühle mich aber ausgelaugt. So, als hätte ich zu lange nichts getrunken.

Daryna Melashenko

Es ist vier Uhr in der Früh. Ich fahre durch Lemberg im Wagen mit meinem Freund. Die Stadt schläft, und alles scheint sehr ruhig und friedlich zu sein, bis uns zwei Männer in Militäruniform den Weg versperren: ein Überwachungsposten. Mein Fahrer hat keinen Nachtpass.

Ein Mann kommt zum Fahrerfenster und begrüßt uns freundlich. Ich bin ziemlich nervös, versuche aber, es nicht zu zeigen. Mein Freund ist dagegen sehr gelassen. Er grüßt den Kontrolleur und sagt: "Ich habe die Dame abgeholt, wir fahren nach Hause." Der Kontrolleur lächelt und sagt: "Gute Nacht." Unser Weg ist frei. Wir fahren weiter.
Ich frage meinen Freund: "Er wollte nicht einmal deinen Nachtpass sehen, den du nicht hast. Wieso?" Er kneift die Augen zusammen und antwortet: "Erstens erkennt man an meinem Akzent, dass ich aus Lemberg komme. Zweitens habe ich ihnen beim ersten Mal gesagt, dass ich eine Mitarbeiterin der österreichischen Botschaft abhole."
Am nächsten Morgen fühle ich mich so, als ob jemand alle Flüssigkeit aus meinem Körper ausgesaugt hat. Meine Organe sind zu einem einzigen großen Knoten geworden. Ich trinke fünf oder sechs Tassen heißes Wasser fast direkt nacheinander.
Als ich 16 Jahre alt war, experimentierte ich mit unterschiedlichen Diäten. Wie blöd das auch klingen mag, wollte ich mir selbst meine Willensstärke beweisen. Zwei bis drei Tage ohne Essen ging für mich fast problemlos. Das Einzige, woran ich damals scheiterte, war Trockenfasten. Es ist sehr unangenehm, dehydriert zu sein.
In der Stadt Mariupol in der Südukraine verdurstete ein kleines Mädchen. Das soll am 7. oder 8. März passiert sein. Ich denke an sie und will uns nicht vergleichen. Ich, ob damals mit 16 oder jetzt mit 26, hatte immer die freie Wahl. Die sechsjährige Tanja, die unter den Trümmern eines zerstörten Privathauses ohne Wasser saß, hatte solch eine Wahl nicht. Ein russischer Raketenwerfer hatte für sie gewählt.
Schon seit zwei Tagen habe ich keine Nachrichten mehr übersetzt. Gut, dass es auch andere Freiwillige gibt. Ich spüre fast keine Gewissensbisse, vielmehr aber eine große Erleichterung, da ich nichts mehr über Verletzungen, Vergewaltigungen und Morde lesen muss. Mir mangelt es nicht an Beweisen dafür, dass russische Krieger ungeheure Mörder sind. Zu den wichtigsten Themen halte ich mich auf dem Laufenden.
Die Ukrainer sagen: "Mein Nabel ist hier begraben", wenn sie über ihre Beziehung zum eigenen Ort und Land sprechen. Dieser Ausdruck geht auf die Tradition zurück, den letzten Rest der Nabelschnur, der neugeborenen Kindern kurz nach der Geburt abfällt, in der Nähe des eigenen Hauses und "dort, wo niemand geht", einzugraben. Dadurch bestehe so etwas wie eine magische Verbindung. Es ist schmerzhaft, diese Verbindung dehnen oder sogar zerreißen zu müssen.
Ich rufe meine Eltern an und versuche, sie von einer Flucht zu überzeugen. Ich sage, dass es derzeit noch eine gute Möglichkeit gibt. Diese könnte später verschwinden. Doch das bringt nichts außer Panik. Ich beruhige sie: Das sei natürlich nicht die einzige Möglichkeit. Es stimmt auch.

Daryna Melashenkoist 26 Jahre alt und lebt in Bojarka, 15 Kilometer von Kiew entfernt.